Günter Grass: Neues Buch:Weil eitler Ehrgeiz juckt

Das neue Buch von Günter Grass, "Grimms Wörter", sollte eigentlich eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache sein. Doch es ist eher eine an sich selbst.

Thomas Steinfeld

In einer Rezension der Altdeutschen Wälder, einer der Zeitschriften der Brüder Grimm, schrieb August Wilhelm Schlegel im Jahr 1815, die Philologie habe es immerfort mit den geringsten Kleinigkeiten zu tun. "Sie schämt sich dessen nicht bei den geringsten Überresten des klassischen Altertums: warum sollte sie es bei den altdeutschen Denkmalen?" Wie sich bald erwies, galt diese Forderung nicht nur für die alten, sondern auch für die neueren deutschen Denkmale.

Günter Grass veröffentlicht 'Grimms Wörter'

Er widmet sein neues Buch einem deutschen Nationaldenkmal - und landet höchst sanft bei sich selbst: Günter Grass wird im Oktober 83 Jahre alt.

(Foto: dpa)

So ernst war es damit den Brüdern Grimm, dass sie ein Werk schufen, das zu einem eigenen Denkmal wurde, und zu einem immer noch lebendigen außerdem: das "Deutsche Wörterbuch". Im Jahr 1838 begonnen, erst im Jahr 1961 beendet, stellt es eines der größten Werke dar, die je in der Sprachwissenschaft unternommen wurden. Und als der letzte der 32 Bände (den Quellenband nicht gerechnet) erschienen war, fing die Arbeit von vorne an, und so geht sie fort. Es ist kein Ende abzusehen.

Denn das "Deutsche Wörterbuch" ist kein Buch, in dem man leicht nachschlagen könnte (oder sollte), wie man etwas zu schreiben oder auszudrücken habe. Es ist, was die Linguisten ein "Belegwörterbuch" nennen, eine auf Vollständigkeit hin angelegte Sammlung, in der, so gründlich wie nur irgend möglich, die Herkunft und der Gebrauch eines jeden deutschen Wortes (die unfeinen inbegriffen) verzeichnet sein soll - und zwar zurück bis an den Beginn des 16. Jahrhunderts, bis zu dem Mann, der als Erster ein Deutsch schrieb, das alle Deutschen verstanden, bis zurück also zu Martin Luther.

Auf zehn Jahre hatten die Brüder die dafür aufzuwendende Arbeit geschätzt, eingeteilt in sechs bis sieben Bände. Als Wilhelm Grimm im Jahr 1858 starb, hatte er indessen gerade den Eintrag zu "Durst" verfasst. Sein Bruder sank vier Jahre später über dem Artikel "Frucht" dahin, und es bedurfte noch Hunderter fleißiger Arbeiter im Weinberg der Wissenschaft, bis am Ende mehr als dreihunderttausend Stichwörter und vierundachtzig Kilo Gewicht beieinander waren.

Diesem Nationaldenkmal ist "Grimms Wörter" gewidmet, das gerade erschienene Buch von Günter Grass (Steidl Verlag, Göttingen 2010, 368 Seiten, 29,80 Euro), eine Art rhapsodischer Erzählung, in der nicht nur die Geschichte der Brüder Grimm und ihres Wörterbuchs erzählt wird, sondern auch viele Ansichten und Erlebnisse des Schriftstellers Günter Grass verhandelt werden.

Seltsame Zappeligkeit

Dabei hätte der Stoff für einen Roman auch in historischer Manier gewiss ausgereicht: Er hätte dann nur erzählt, wie eng Anarchie und Ordnungswille in diesem Werk verbunden sind, von der sonderbaren Lebens- und Arbeitsgemeinschaft der beiden Brüder, von ihrem ebenso schwärmerischen wie lästigen (und doch nützlichen) Hausgeist Bettina von Arnim, von der Vertreibung aus Göttingen und den Spaziergängen durch den Tiergarten, von der heroischen Frühgeschichte der Germanistik und allerhand nationalen Umtrieben, die bis in die Paulskirche führten. Und von Wörtern, vielen Wörtern, alten und neuen, wäre selbstverständlich die Rede gewesen.

All dies tut Günter Grass, und man liest es gern, solange es dabei bleibt: "Wilhelm", schreibt er, "fügt zweisilbige Wörter dazu, die mit einem Kehllaut enden. Bottich sagt er, Rettich. Dann kommt er zu zwei- und dreisilbigen, die ein ch einschließen: Sache, Rache, Sprache, Sichel und brauchen, fauchen, suchen, fluchen, sowie versprochen, gebrochen, gerochen. Sie stehen auf einer Brücke, die mit zierlich geschmiedetem Geländer einen Wasserlauf überwölbt. Gesträuch Sonnenlicht durchs Blattwerk gebrochen. Eine Ente mit ihrer Aufzucht im Kielwasser."

Sogar ein Wörterbuch lässt sich erzählen, und Günter Grass verfügt über die dazugehörigen literarischen Mittel - wobei man sich an die ihm eigene heftige Zuneigung zur willkürlichen Inversion, also zum Aufplustern beliebiger Sätze durch Verkünstelung der Wortfolge ("Auf Reisen erledigt er seine Post") ja vielleicht längst gewöhnt hat. Die so vermeintlich erzeugte Spannung zielt fast jedes Mal ins Leere, wodurch die seltsame Zappeligkeit entsteht, von der die Lektüre eines Werks von Günter Grass oft begleitet wird.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, woran das Buch krankt.

Das geheime Zentrum

"Grimms Wörter" missraten indessen im selben Maße, wie Günter Grass den Untertitel seines Buches verrät: dieser lautet: "eine Liebeserklärung". Denn lieben kann man nur, was man respektiert und in seiner Eigenart belässt. Lieben setzt Distanz voraus, eine Bewunderung, die ihren Gegenstand nicht zu verschlingen, sondern zu erhalten, ja in seiner Selbständigkeit zu fördern trachtet. Günter Grass aber will den Abstand zu den Brüdern Grimm und ihren Wörtern verringern, mit allen Mitteln.

Altertümelei

Das beginnt mit der Sprache: "Nun möchte auch ich, weil eitler Ehrgeiz juckt", schreibt er, "an dem Gelehrtenstreit der Brüder teilhaben und dem Altdeutschen das Wort reden, bin ich doch, wenngleich von einheimischen Feinden oft als ,vaterlandsloser Geselle' beschimpft, dergestalt in den Sinn und Widersinn der deutschen Sprache vernarrt, daß ich mir mit Jacob die Frage stelle, weshalb älter und Eltern zwar gleich anlauten und sich von alt, Alter, herleiten, aber dennoch mit Ä und E auf Unterschied bestehen."

Dies ist nicht der Stil der Brüder Grimm, denn diese waren in und mit der radikalen Erneuerung der deutschen Sprache in der späten Aufklärung und frühen Romantik groß geworden. Dieser Stil ist eine phantastische Anverwandlung einer älteren Sprachvariante, nämlich der von den Dichtern der Zeit um 1800 verachteten Kanzleisprache. Der vermeintlich historische Stil steht hier für eine Altertümelei, die sich in ihren Gegenstand drängt, an seiner Dignität teilzuhaben trachtet und diesen so instrumentalisiert.

Günter Grass legt "Grimms Wörter" als Lexikon an: Den Buchstaben von "A" bis "F" ist jeweils ein Kapitel gewidmet, in dem sich dann die Einträge in scheinbar ungeordneter Zahl und Vielfalt tummeln, je nachdem, welcher erzählerischer Stoff aus ihnen entwickelt werden kann. Dann sind die Brüder tot, und in den Kapiteln "K", "U" und "Z" wird die weitere Geschichte des Wörterbuchs erzählt, mit gelegentlichen Rückgriffen auf die Gründungshelden.

Das Verfahren hat die Schwäche, dass es in einer formalen Reihung besteht, also dramaturgisch unergiebig ist - einmal abgesehen davon, dass es ein Irrtum ist zu glauben, man habe sich eine Sprache erschlossen, wenn man ihre Wörter kennt. Denn die Sprache lebt ja nicht in Wörtern, sondern in Sätzen. Günter Grass aber benötigt das Prinzip der Reihung, und zwar nicht um der Brüder Grimm willen.

Denn die einzelnen Einträge, die Lemmata, sind nun in der Welt, und sie erlauben dem Autor, ohne Umwege aus der Geschichte der Brüder Grimm heraus- und in die eigene Geschichte hineinzutreten. Das geht dann zum Beispiel so: "Es fehlt an Zeugnissen, wie Jacobs Rede ,Über meinen Bruder Wilhelm' aufgenommen wurde, doch ist mir aus der Jahre Distanz in leicht verwackelten Momentaufnahmen erinnerlich, wie meine Reden, gehalten vor den Mitgliedern der Berliner Akademie der Künste - dazumal am Hanseatenweg im Bezirk Tiergarten -, teils Gehör fanden, teils Anstoß erregten."

Die wahre Liebe

Und damit nicht genug: Mit den Brüdern Grimm pflegt Günter Grass lebhaften Umgang, schaut ihnen über die Schulter, sitzt mit ihnen auf einer Parkbank, vertieft sich mit ihnen ins Gespräch. Das Verfahren kulminiert in einer Szene, in der sich die großen Schöpfergestalten deutscher Sprache und deutschen Geistes, Leibniz und Herder, Schleiermacher, Fichte und Hegel, Adelung und Schottelius in einer Szene vereinen, die an Raffaels "Schule von Athen" erinnert, mit Günter Grass als dem gar nicht so geheimen Zentrum des gesamten Arrangements.

Ferner kommt vor, was das Publikum von Günter Grass kennt: die Wahlkampfreisen für Willy Brandt und die Preiserede auf Yasar Kemal, die Mitgliedschaft in der Waffen-SS, und die Auseinandersetzungen um Heinar Kipphardt, die Zusammenarbeit mit Heinrich Böll und die mit den eigenen Verlegern, das Engagement für die Entwicklungshilfe und das für die Roma. Es kommen vor der Polizeimeister Kurras und der Steuerflüchtling Zumwinkel. Und es kommen vor: das Ressentiment (Ärzte, Apotheker und Politiker: "anfangs corrupt, dann korrupt, allzeit geschmiert") und die gehässige Nachrede (der "mit fetten Klinkern" behängte, Waffenhandel betreibende "Frankfurter Geldadel", der sich ausgerechnet zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels einfinden soll).

Wenn dieses Buch eine "Liebeserklärung" ist, dann gilt sie ausschließlich seinem Autor - was ja den Vorteil hätte, dass dieser den Liebenden zurückliebt.

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