Was man sich für eine Architekturausstellung wünscht: dass sie mitten im Leben ist, dass Menschen, die ganz zufällig vorbeikommen, stehen bleiben und anfangen, sich dafür zu interessieren, dass sie hängen bleiben an einem Detail, einem Satz, einer kleinen Zeichnung oder einem alten Foto - und dass sie beginnen zu verstehen, was Architektur wirklich kann, wenn man sie denn lässt.
Exakt das schafft die großartige Ausstellung über Günter Behnisch anlässlich seines 100. Geburtstags in Stuttgart, die die Architektenkammer Baden-Württemberg initiiert und die Baden-Württemberg-Stiftung gefördert hat. "Bauen für eine offene Gesellschaft" lautet ihr Titel, und offener, sprich zugänglicher könnte die Schau tatsächlich nicht sein. Findet sie doch im Erdgeschoss eines ehemaligen Kaufhauses statt, in bester Stuttgarter Lage, zwischen Schlossgarten und Königsstraße, gleich gegenüber vom Hauptbahnhof.
So mitten im Leben ist die Pop-up-Ausstellung, die keinen Eintritt kostet und die man auch als formidablen Vorschlag verstehen kann, wie unsere verödeten Innenstädte sich wieder beleben ließen, dass man nicht nur bei jedem Blick durch die Glasfassade zu allen Seiten die Passanten ringsum studieren kann, wie sie flanieren, ihren Kinderwagen schaukeln, sich hetzen oder auf dem Rasen des Schlossgartens Platz nehmen, sondern dass man sie sogar hört: Zur Theaterpassage wird der Ausstellungsraum nur mit einem transparenten Netz abgetrennt. Die Geräuschkulisse von dort schwappt auf diese Weise ungehindert in den lichten, wandlosen Raum der rückgebauten Verkaufsfläche. Fast automatisch denkt man sich daher die Stuttgarter Passanten in die Entwürfe von Behnisch. Was ja auch passt, weil ein großer Teil der 150 Behnisch-Bauten für den Stuttgarter Raum entworfen wurde. Allen voran imaginiert man sich die Kinder in seine so grandios verspielten Kindergärten - wie den in der Pelikanstraße in Stuttgart-Neugereut oder den schiffsartigen in Stuttgart-Luginsland.
Stramm stehen? Bitte nicht in der Architektur
Gerade in den Kindergärten finden sich überall "gebaute kleine ,Freundlichkeiten'", wie Günter Behnisch das nannte, Deckenornamente in Form eines Sterns, Säulen mit bunten Pfeilen, Fensterchen in Rückzugsnischen und stets einen starken Bezug zum Garten ringsum, der immer auch mit Kinderaugen, sprich auf Kinderhöhe zu entdecken ist. Diese "Freundlichkeiten", die man dort in den alten Fotografien, den Skizzen, Modellen und Plänen sieht, betrüben einen schlagartig, muss man doch an die Verwahrungskisten von heute denken, in denen viel zu viele Kinder in diesem Land ihre Tage unter Technikdecken in möglichst rechteckiger Aufgeräumtheit verbringen, der Garten dabei kaum mehr als ein Handtuchgrün. "Vor einer Gestaltungssatzung muss man doch nicht strammstehen" hatte Behnisch im Streit um die gläserne Fassade seiner Akademie der Künste in Berlin gesagt. Man wünscht sich seinen streitbaren Geist auch in so mancher Gemeinderatssitzung, wenn neue Kinder- und Schulbauten abgesegnet werden.
Oder die älteren Herrschaften, die auf der Königsstraße vorbeispazieren: Wie würde es ihnen gefallen in dem Alten- und Pflegeheim, das Günter Behnisch 1971 bis 1977 in Reutlingen baute?
Mit den holzwarmen Schindeln und den vor- und zurückspringenden Erkern scheint es im Widerspruch zu stehen zu denen, die darin untergebracht sind, den Alten und Schwachen. Aber warum eigentlich? Wieso wird man bei den Aufnahmen, der fast heiteren Formensprache der Architektur, ihrer Wärme, ja Herzlichkeit prompt nostalgisch? Doch nur, weil heute beim Begriff Altenheim sofort das Schlagwort Pflegenotstand im Kopf aufpoppt, gefolgt von den aufrüttelnden Geschichten, wie Menschen in Altenheimen deswegen manchmal mehr verwahrt als untergebracht, geschweige denn von ihrer räumlichen Umgebung angeregt oder inspiriert werden. Dabei weiß man durch Studien längst, wie wichtig das wäre, eine anregende Architektur, um körperlichem Verfall und Einsamkeit zu begegnen.
Nicht um die "Organisation der Masse", sondern um das Sichbewusstwerden des Individuums in der Gesellschaft ist es Günter Behnisch gegangen. Er wolle, sagte er einmal, "alles, was klein, unorganisiert, schwach, individuell ist" unterstützen. "Auf keinen Fall den ,Apparat!'" Worte von einem, der als einer der jüngsten U-Bootkommandanten im Zweiten Weltkrieg kämpfte, danach Jahre in der Kriegsgefangenschaft in England verbrachte, aus der er leicht hingetupfte, traurig-schöne Kinderzeichnungen nach Hause schickte.
Der mörderische Schrecken des 20. Jahrhunderts mit dem Krieg, den Behnisch erlebte, und über den er eher selten sprach, er hat Europa nun wieder. Welche Auswirkungen das auf eine ganze Generation haben wird, weiß keiner.
Auch heute wünscht man sich eine nahbare Politik
Der Krieg erweckte in Behnisch den unbedingten Willen zur Demokratie - und zwar nicht nur, "wie sie ist, sondern wie sie sein sollte". Niemand sonst hat diese Staatsform in derart lichte, transparente, aber eben auch auf das menschliche Maß berechnete Architektur übertragen. Mit den Bauten für Olympia 1972 wurde der Beweis erbracht, dass eine planerische Meisterleistung auch im Teamwork möglich ist. Eine große, mit Bedeutung schier überladende Massenveranstaltung geriet leichtfüßig und fröhlich, trotz des Terroranschlags. Deutschland erhielt ein neues Gesicht. Ähnlich ist es mit dem beschwingten Plenarsaal in Bonn: Nicht nur der SPD-Abgeordnete und Architekt Peter Conradi erhoffte sich durch die kreisrunde Sitzordnung der Abgeordneten eine offene Debattenkultur. Noch vor der Fertigstellung des Plenarsaals beschloss der Deutsche Bundestag 1991 den Umzug nach Berlin. So wichtig und richtig diese Entscheidung war, wer heute den Reichstag in Berlin mit dem Plenarsaal in Bonn vergleicht, der kommt nicht umhin, in den fast schon bescheidenen Dimensionen der alten Hauptstadt auch eine größere Nahbarkeit der Abgeordneten zu erkennen.
Aber auch die lichten, stets mit der Umgebung und ihrer Natur verbundenen Lehrbauten und natürlich Behnischs Schulen, die für ihn so sehr zur Demokratisierung einer Gesellschaft gehörten, mit den individualisierten Klassenzimmern, der fehlenden Hierarchie, dem Verweben von innen und außen. Als "Heinrich Böll der deutschen Architektur" wurde Günter Behnisch bezeichnet - weil er Demokratie so lesbar in Gebäude übersetzte. Wobei für Behnisch "die Frage nach der demokratischen Architektur nicht die Frage nach dem Äußeren von Architektur" war, sondern "das Demokratische in den Prozessen" lag. Das zeigte sich in seinem Team, das er unglaublich geschickt zu führen wusste, und in dem er die Leute an den richtigen Stellen positionierte, weswegen der Ausdruck "Behnisch-Schüler" vermutlich - nicht nur in Stuttgart, aber vor allem dort - eine eigene Architektengattung umfasst. Schon 1965 erklärte Günter Behnisch: "Das patriarchalisch geführte Büro des Baukünstlers wird nicht unseren Aufgaben gewachsen sein. Es entspricht schon von der geistigen Haltung her nicht unserer demokratischen Gesellschaftsordnung."
Aber es sind nicht nur die Prozesse, die erklären, warum das Werk von Günter Behnisch, der im Jahr 2010 starb, und dessen umfangreiches Werkarchiv im Archiv für Architektur und Ingenieurbau am KIT in Karlsruhe lagert, bis heute so berührt. "Behnisch wollte die Gesellschaft mit seiner Architektur nicht erziehen", sagt Elisabeth Spieker, neben Petra Behnisch, Senay Memet und Mechthild Ebert eine der vier Kuratorinnen der Ausstellung, zu der es auch eine sehr materialreiche Website gibt. "Aber Günter Behnisch hat versucht, seinem Bau einen Zukunftsaspekt mitzugeben. Er hat einen Hoffnungsschimmer eingebaut, der nicht nur die Realität reproduziert, sondern der in die Zukunft weist." Was bitte schön bräuchten wir heute mehr als das?
Bauen für eine offene Gesellschaft. Günter Behnisch 100 . Königsstraße 1c, Stuttgart (Theaterpassage). Bis 3. Oktober. Der Eintritt ist frei.