Am 1. Juli wählt Mexiko einen neuen Präsidenten. Den Wahlkampf dominieren die täglichen Meldungen über neue Tote im Drogenkrieg und regelmäßige Provokationen von US-Präsident Donald Trump. Politikwissenschaftler führen Mexiko als Beispiel für Staatsversagen an. Die Schriftstellerin Guadalupe Nettel, die lange in Europa gelebt hat, ist trotzdem dorthin zurückgekehrt. Gerade ist ihr Debütroman "Nach dem Winter" auf Deutsch erschienen (Karl Blessing Verlag, München, 2018, 22 Euro), ein poetischer, leiser Roman über die Einsamkeit und das Leben in der Fremde.
SZ: Geht es nach US-Präsident Donald Trump, dann sind Menschen, die aus Mexiko in die USA einwandern, Vergewaltiger und Verbrecher. Die mexikanische Regierung bezeichnet er als "vollkommen korrupt", die mexikanische Bevölkerung als Bedrohung. Wie geht man damit um? Hilft Humor?
Guadalupe Nettel: Humor ist ein Ventil; wenn alle Wut darüber entweicht, verpufft sie. Man braucht noch einen Rest Empörung, um nicht passiv zu werden und alles hinzunehmen. Aber das Interessante ist: Obwohl Trump einen Diskurs des Hasses gegen Mexikaner und Latinos schürt, hat seine Präsidentschaft auch positive Effekte für Mexiko.
Welche wären das?
Seitdem der US-Präsident gegen Mexikaner polemisiert, scheint sich die linke Intelligenzija der USA überhaupt erst wieder daran zu erinnern, dass Mexiko existiert. Künstler wie Patti Smith kommen nach Mexiko und geben Konzerte, in den USA werden neue Festivals zum kulturellen Austausch mit Mexiko ins Leben gerufen, auf einmal übersetzt man sehr viel mehr mexikanische Schriftsteller ins Englische. Es gibt eine neue Solidarität. Zugleich zeigt sich, wie eng die Kultur- und die Kunstszenen beider Länder miteinander verflochten sind.
Trump will eine Mauer zwischen beiden Staaten bauen. Diese Art der Politik könnte dem Austausch massiv schaden.
Trumps idiotische Mauer wird an der engen Beziehung zwischen den USA und Mexiko nichts ändern. Jeder Mexikaner hat Freunde oder Verwandte in den USA, die Grenzregion ist seit jeher bevölkert von Grenzgängern beider Seiten - und sie blüht auf, seitdem die Pläne vom Mauerbau kursieren, sowohl das Ökosystem in dieser Region als auch der Imaginationsraum rund um diese Grenze. Sie fordert aber auch Opfer. Sie sterben in der Hoffnung auf ein besseres Leben, die sie dorthin geführt hat, oder sie sterben im Drogenkrieg, der mein Land nach wie vor fest im Griff hat.
Der Terror der Drogenkartelle dominiert auch den Wahlkampf in Mexiko. Die größte Unterstützung genießt der Kandidat Andrés Manuel López Obrador, ein Linkspopulist, der eine Amnestie für die Kartelle fordert. Sie unterstützen hingegen die unabhängige indigene Kandidatin Marichuy Patricio, obwohl diese eigentlich keine Chancen auf einen Wahlerfolg hat.
Ich finde, es ist an der Zeit, dass eine Frau, und noch dazu eine indigene Frau, an der Spitze Mexikos steht. Aber es ist schwer, ohne die Infrastruktur einer mächtigen Partei Präsident zu werden. Tatsächlich sieht es momentan so aus, als könnte López Obrador die Wahl gewinnen. Ich bezweifle allerdings, dass es reicht, die Drogenbarone zu amnestieren. Ich glaube, dass nur eine Legalisierung, nicht nur von Marihuana, sondern auch von anderen Drogen, die Kartelle so weit entmachten würde, dass dieser Krieg ein Ende findet.
Das zweite große Thema in Mexiko ist die Migration. Ihr Roman "Nach dem Winter" handelt ebenfalls davon, aber auf optimistische Art.
Ja, bei mir ist Migration kein problembehaftetes Thema. Meine beiden Protagonisten sind Migranten: Der Kubaner Claudio hat es aus ärmlichen Verhältnissen nach New York geschafft, Cecilia stammt aus Mexiko und studiert in Paris - auch das ist Migration: ganz normale Menschen, die ihre Chancen suchen in der Welt. Literatur kann zeigen, wie vielfältig und verschieden die Gründe und Geschichten sind, die Menschen dazu bringen, ihr Land zu verlassen. In Europa und den USA werden Migranten viel zu oft als Opfer gesehen oder als Menschen, die es fernzuhalten gilt. Sie scheinen plötzlich aufzutauchen und dann geht es nur noch darum, sie wieder loszuwerden.
Sie führen bislang auch ein eher unstetes Leben: Ehe Sie nach Mexiko zurückgekehrt sind, haben Sie unter anderem in Frankreich, Kanada und Spanien gelebt.
Meine Eltern sind klassische Linksintellektuelle, nicht reich, aber sehr weltoffen. Aufgewachsen bin ich in einem Einwandererviertel in Mexico D.F. Als Jugendliche habe ich mit meiner Mutter eine Zeit lang in Frankreich in der Banlieue gewohnt, als einzige Lateinamerikanerin unter Arabern. Ich sprach weder Arabisch, noch war ich Französin, also habe ich das alles aus der Distanz wahrgenommen, die hohen Mauern, die ein arabischer Junge überwinden musste, wenn er es an die Uni schaffen wollte.
Danach sind Sie nach Mexiko zurückgekehrt. Aber nur, um zum Studium wieder nach Paris zu gehen. Warum?
Der alte Traum lateinamerikanischer Schriftsteller von Paris - wir werden ihn anscheinend nicht los. Ich habe mir damals geschworen, niemals zurückzukehren nach Mexiko, wenn die Situation dort nicht besser werden würde.
Und?
Die Situation wurde schlechter. Zurückgekehrt bin ich trotzdem.
Warum das?
Zum einen wollte ich in der Nähe meiner Eltern sein, wenn sie alt werden. Zum anderen habe ich ein Verantwortungsbewusstsein gegenüber meinem Heimatland gespürt. Ich wollte zurückgehen und etwas zum Besseren verändern. Jetzt sorge ich für das Fortbestehen der altehrwürdigen Literatenzeitschrift Revista de la Universidad de México, für die schon viele meiner Vorbilder geschrieben haben, Octavio Paz und Julio Cortázar zum Beispiel. Wir widmen jede Ausgabe einem bestimmten Thema, die aktuelle heißt "Éxodos". Es geht um Migration. Und um Trumps Politik.