Süddeutsche Zeitung

Polit-Pop in der Türkei:"Wir haben jetzt zwei Märtyrer"

Der Musiker Ibrahim Gökçek ist das zweite Mitglied der türkischen Band "Grup Yorum", das sich zu Tode gehungert hat. Nach Gewalt gegen die Anhänger der Gruppe, droht eine weitere Eskalation.

Von Tomas Avenarius

Jeder Tod ist auf seine eigene Art tragisch, aber dieser Tod ist es auf besondere Weise. Nach 322 Tagen Hungerstreik ist am Donnerstag der inhaftierte türkische Musiker Ibrahim Gökçek gestorben - und das, obwohl der Bassist der populären türkischen Politfolk-Band Grup Yorum sein Todesfasten zwei Tage zuvor beendet hatte. Kurz nach der Verlegung in ein Krankenhaus verstarb der 39-Jährige. Er ist bereits das zweite Mitglied der Band, das sich zu Tode gehungert hat: Seine Bandkollegin Helin Bölek war vor knapp zwei Wochen nach 288 Tagen Hungerstreik gestorben. Und nachdem die Polizei bei der Trauerfeier in Istanbul nun auch noch mit Gewalt gegen die Anhänger der Gruppe vorgegangen ist, droht eine weitere Eskalation.

Denn weitere fünf Musiker der vor allem in linken und kurdischen Kreisen populären Band sitzen noch im Gefängnis. Eine Band-Sprecherin sagte der SZ, dass man das Todesfasten nach dem Tod von Gökçek durchaus wieder aufnehmen könne, um die Forderungen der Band durchzusetzen. "Wir haben jetzt zwei Märtyrer, aber der Kampf wird fortgesetzt."

Grup Yorum fordert, alle inhaftierten Musiker der Band sofort freizulassen

Angesichts des Tränengaseinsatzes der Polizei im Trauerzentrum ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Was Grup Yorum in ihrem ungleichen Kampf gegen den Staat fordert: Alle inhaftierten Musiker sollen sofort freigelassen, das Auftrittsverbot für die Band aufgehoben werden. Doch die Justiz zeigt sich - in der Türkei ist das anders kaum zu erwarten - bisher hart. Die Behörden sehen in der Band so etwas wie die musikalisch-kulturelle Propaganda-Abteilung der links-extremistischen Revolutionären Volksbefreiungsfront DHKP-C. Die in den Siebzigerjahren gegründete, bewaffnete Untergrundgruppe wurde durch Terroranschläge bekannt.

Wie groß die praktische Nähe zu der bewaffneten Gruppe ist, lässt sich schwer sagen. Aus ihrer Sympathie für die Volksbefreiungsfront hat Grup Yorum jedenfalls nie einen Hehl gemacht. Ebenso ein Dorn im Auge ist dem Staat die politische Nähe zu kurdischen und alevitischen Gruppen, für die Grup Yorum sich mit ihrer Musik stark macht. Auch in Deutschland wurde einige Male ein Auftrittsverbot verhängt, als die Band ins Land kam, der Verfassungsschutz beobachtete Grup Yorum.

Die linke Arbeiter- und Revolutionsromantik, die die Band in ihren Songs verströmt, wirkt etwas aus der Zeit gefallen im 21. Jahrhundert: In den linken und säkularen Segmenten der türkischen Gesellschaft ist die Band aber nach wie vor populär; Grup Yorum ist in der Türkei eine musikalische Institution. Vor dem Auftrittsverbot 2016 konnten die Musiker große Hallen füllen. Zum 25-jährigen Band-Jubiläum 2015 kamen 25 000 Menschen in den Inonü-Sportpalast in Istanbul, und das waren nicht nur alte Linke, sondern auch viele jüngere Menschen.

Die Band mischt traditionelle Musik mit Pop-Elementen zu einem eigenen, leicht pathetischen Agitprop-Sound. Bei Grup Yorum-Konzerten verbreiten Che-Guevara-Porträts Revolutionsromantik, Chöre und Streicher geben den Auftritten eine Anmutung ideologisch durchgespülter Kulturveranstaltungen. Grup Yorum fordert den Umsturz des "kapitalistischen Systems" rund um den Globus, die Musiker treten ein für ein "revolutionär-sozialistisches" Musikverständnis. Sie haben sich als "marxistisch-leninistische Musiker" bezeichnet, die unbewaffnet kämpfen: "Wir machen Musik, das ist der Unterschied."

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SZ vom 09.05.2020
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