Berlin im Kaiserreich:"Heut jiebt's keen Knochenfleisch!"

Werbung eines Geschäfts für Tierbedarf in Berlin, 1910

Ein Hundeatelier wirbt mit einem Dackelgespann im Berliner Tiergarten.

(Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Hans Ostwald wollte Licht in die dunklen Winkel der Städte bringen. Eine Auswahl aus den "Großstadt-Dokumenten" führt in das Berlin vor dem ersten Weltkrieg, in Varietés, feuchte Wohnungen und Clubs.

Von Stephan Speicher

Im Herbst 1904 erschien als "Dunkle Winkel in Berlin" der erste Band einer Buchreihe, die in den kommenden vier Jahren auf fünfzig Titel anwachsen sollte: "Großstadt-Dokumente". Der Herausgeber der Reihe und Autor des ersten Bandes, Hans Ostwald, erklärte in der Vorrede, was hier bezweckt sei: "über die sittlichen und sozialen Zustände unserer modernen Großstädte Licht (zu) verbreiten". Dabei sollte von den "abscheulichen Mängeln" der modernen Städte so gut die Rede sein wie von ihrem "gewissen Kulturwert". Die jähe Dynamik der Entwicklung und der "riesenhafte Gehalt" des Themas schließe es aus, davon in Romanform zu berichten. Selbst einem Zola sei dies nicht immer gelungen. "Und wir wollen froh sein, dass wir über die Zeit solcher Romane hinweg sind."

Stattdessen werde die neue Reihe in knappen, günstig kalkulierten Bänden (rund 100 Seiten zu je einer Mark) "Aufklärung über das Wesen der Sache geben - unterrichten" und zwar auch "in manchen bisher verpönten Sachen". Jeder der Bände war zusammengesetzt aus kurzen Kapiteln, die es ermöglichten, die Vielfalt und Wechselhaftigkeit der Dinge immer wieder neu in den Blick zu nehmen.

Es war also eine dezidiert moderne Unternehmung, gerade in dem Anspruch, die Mittel der Kunst durch geeignetere zu ersetzen. "Der Sachkenner soll den Wissbegierigen an die Hand nehmen." Nicht der Flaneur ließ den Blick schweifen, der Forscher suchte zielgerichtet die Orte seines Interesses auf. Aus den fünfzig Bänden hat nun Thomas Böhm eine Auswahl von knapp fünfzig Kapiteln getroffen: "Berlin. Anfänge einer Großstadt". Ein erheblicher Teil der präsentierten Stücke sind Reportagen über Sport und Varietés, die Gesellschaft in Clubs und Bars, die Heilsarmee oder das Konfektionsviertel.

Manches davon ist ziemlich konventionell. Aber anderes höchst interessant und bewegend. Immer noch gibt es Armut und Hunger, vor Metzgereien sammeln sich die Ärmsten, um Fleischabfälle, "Knochenfleisch", zu ergattern; eine Gelegenheit für Metzgergesellen, ihre bescheidene Machtstellung auszuspielen: Man lässt die Hungrigen warten, um dann herauszutreten: "Heut jiebt's keen Knochenfleisch!" Aber wie mag es im Ganzen um die Ernährung der Bevölkerung stehen? Das erfährt man nicht.

Die interessantesten Stücke sind die nicht journalistischen. Magnus Hirschfeld unterrichtet über die Lage der Homosexuellen, ihm kommt seine wissenschaftliche Beschäftigung damit zugute. Alfred Lasson beschreibt in dem Band "Gefährdete und verwahrloste Jugend" empört und gründlich die "Mörderischen Wohnungszustände": Enge, Feuchtigkeit, Gesundheitsgefährdung. Georg Bernhard, Handelsredakteur der Berliner Morgenpost und später Chefredakteur der Vossischen Zeitung, behandelt den Bankier, einen Sozialtypus, der von der Schwäche des Bürgertums und seines Selbstbewusstseins zeugt: Nichts ist dem Bankier so selbstverständlich wie ein adliger Schwiegersohn, der vertut, was Disziplin und Fähigkeiten vorangegangener Jahre aufgebaut haben.

Schlafende Männer auf einer Parkbank in Berlin 1910

Berliner Arbeiter beim Mittagsschlaf auf einer Parkbank.

(Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Man erfährt einiges, es ist ein schönes, lesenswertes Buch, das der Verlag herausgebracht hat. Aber anderes, Wichtiges, Hierhergehörendes erfährt man nicht. Was bedeutet Modernität Anfang des 20. Jahrhunderts? Jeder wird an die Industrie denken und Berlin ist doch ein Zentrum der Industrie. Aber davon ist nicht die Rede und auch nicht von Universitäten und Wissenschaften, dem Gesundheits- oder Verkehrswesen, nicht im vorliegenden Buch und auch nicht in der Schriftenreihe, sofern sich das aus den Titeln schließen lässt. Müssten diese Themen nicht jeden Parteigänger der Moderne interessieren?

Stattdessen widmen sich die ersten Bände der Reihe den schon erwähnten "Dunklen Winkeln" der "Bohème", dem "Dritten Geschlecht", "Tanzlokalen", "Zuhältertum" und "Sekten und Sektierern". Das hängt gewiss mit der sozialkritischen Aufgabe zusammen, die sich die "Großstadt-Dokumente" gestellt hatten, mit dem Kampf gegen Vorurteile und Beschränktheiten jeder Art. Aber natürlich ging es auch um Verkäuflichkeit, und da machen Mädchenhandel (Band Nr. 37) und Geisterbeschwörer (Nr. 36) mehr her als U-Bahnbau und Elektrotechnik.

Nun gut, alles darf man nicht erwarten, und was geboten wird, ist ja auch von Interesse, denkt der wohlwollende Leser. Der rezensentische Miesnickel erinnert sich an die rechte Propaganda gegen die großen Städte als Orte des Verbrechens, der Zersetzung, des Lasters und der Wichtigtuerei. In den Zwanzigerjahren wird das als Streit um Metropole und Provinz inszeniert und ein Instrument im Kampf gegen die Republik. Von daher wäre es nicht mal so banal gewesen, in den "Großstadt-Dokumenten" auch Leistungen der Industrie, der Medizin und anderen Wissenschaften hervorzuheben. Der "gewisse Kulturwert" der Metropolen, den die Einleitung der Reihe versprach, das Nüchterne, Tüchtige, Reelle, das doch auch dazugehört, das kommt vielleicht etwas zu kurz.

Hans Ostwald: Berlin. Anfänge einer Großstadt. Szenen und Reportagen 1904 - 1908. Hrsg. von Thomas Böhm. Verlag Galiani, Berlin 2020. 405 Seiten, 28 Euro.

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