Großprojekte in Deutschland:Nicht in meinem Hinterhof

Martin Schmitt Vierschanzentournee 2012 Garmisch-Partenkirchen Skispringen

Vierschanzentournee statt Olympische Spiele in Garmisch-Partenkirchen (im Bild Martin Schmitt): Die Vorzeichen für Großprojekte in den Städten haben sich längst geändert.

(Foto: AFP)

In München und Umgebung hat Olympia keine Chance. Zu undurchschaubar sind die Machenschaften des IOC, zu erwartbar die Saturiertheit der Bürger. Unsere Städte sind längst übereventisiert und zugrunde vermarktet, da gibt's keinen Platz für die Spiele. Doch können wir es uns wirklich leisten, für alle Zeit das Dorf von Asterix zu sein?

Von Gerhard Matzig

Nein, es ist keine "krachende Niederlage" für die Olympia-Befürworter. Das laute Krachen einer Niederlage setzt stille, selbstbewusste Siegeszuversicht auf der vermeintlich starken Seite voraus. Die Niederlage war aber vorhersehbar für eine Seite, die nicht vermeintlich stark, sondern tatsächlich schwach ist. Denn das Dagegensein ist in unserer Zeit viel virulenter und dominanter als das Dafürsein. Wer hier David und wer Goliath ist, was hier Mainstream und was Minderheit ist: Über die aktuelle Rollenverteilung kann man sich nicht mehr sicher sein.

Die eigentliche Überraschung am Votum jener Bürger, die sich am Sonntag in den vier Bürgerentscheiden (München, Garmisch-Partenkirchen, Traunstein und Berchtesgaden) auf so eindeutige wie zeichenhafte Weise gegen eine Bewerbung um die Winterspiele 2022 ausgesprochen haben, liegt nicht im erwartbaren Sieg der Olympia-Gegner. Eine Überraschung wäre es gewesen, hätten sich die Befürworter durchgesetzt.

Das Votum gegen ein Olympia von morgen und 2022 - symbolhaft in Aussicht gestellt exakt ein halbes Jahrhundert nach Olympia 1972 in München - richtet sich nicht nur gegen das realistischerweise schon heute als mafiös erscheinende IOC und seine elende Praxis der Städte- und Nationen-Geiselnahme; und es erschöpft sich auch nicht in der berechtigten Sorge um die ökologische Nachhaltigkeit der als bedroht empfundenen Heimat. Was sich hier zeigt, und zwar auf mindestens ebenso symbolhafte Art, ist viel mehr als ein zufälliger Ausschlag der Stimmungsdemokratie oder des allgemein erstarkten Wutbürgertums: Es geht, und deshalb sollte man das Phänomen tunlichst ernst nehmen und die Niederlage als geradezu systembedingt anerkennen, um einen gesamtgesellschaftlichen Gesinnungswandel. Nicht allein in Bayern, sondern in ganz Deutschland. Womöglich ist es auch ein Fingerzeig für westliche Demokratien insgesamt. Traunstein hat etwas zu tun mit Sotschi, Berchtesgaden hat etwas zu tun mit Katar.

Event und Spektakel

Die Vorzeichen haben sich für Großereignisse wie für Großstrukturen und Großprojekte geändert. Politik und Wirtschaft, der Sport und die Gesellschaft, gerne auch die Medien: Alle können daraus lernen. Der Paradigmenwechsel umfasst unter anderem eine überfällige Abrechnung mit einer Moderne, die nicht nur unterirdische Bahnhöfe, Flugverkehr, Schneekanonen und den Markenfetischismus eines halbseidenen und dreivierteltotalitären Global Players namens IOC hervorgebracht hat, sondern geradezu zwangsläufig auch die modernen Olympischen Spiele, wie wir sie heute kennen: als Event und Spektakel.

Das ist einer von vielen Haltepunkten auf dem Weg nicht zur krachenden, sondern zur schleichend erlittenen Niederlage: Unsere Städte sind schon längst übereventisiert und zugrundevermarktet. Im Wettbewerb um Standortvorteile und Imagebildung überbieten sich die Zentren in der fragwürdig gewordenen Kunst, den sogenannten öffentlichen Raum zu bespielen - der dadurch eher privatisiert und kommerzialisiert wird und der zunehmenden Exklusionsgesellschaft dient. Man ist, trotz der begeisternden Spiele von 2012 in London der fanfarenhaften Veranstaltungen langsam etwas müde.

Keine Kraft mehr zu gestalten

Das ist man aber auch deshalb, und hier haben wir auf Dauer ein Problem, weil man als Gesellschaft insgesamt recht müde geworden ist. Weil man überaltert, saturiert, gegenwartsbequem und risiko-avers ist. Weil man Angst vor Veränderungen hat, vor Baustellen und Blaupausen, vor Chancen und Risiken. Weil man auf dem Manufactum-Sofa inmitten eines neobiedermeierlichen Zeitgeistes verharrt. Uns ist vor lauter Sorge und Bewahrung die Kraft abhandengekommen zu gestalten.

Möglicherweise verkennen wir die Leistungen in der Vergangenheit, die ohne Bagger nicht denkbar wären. Die Baustellen von einst bieten uns heute das Zuhause, das wir vor Sanierung und Ausbau bewahren wollen. Als Hans-Jochen Vogel als damals jüngster Oberbürgermeister einer europäischen Metropole die Spiele Mitte der Sechzigerjahre nach München holte, war unser Land mit Blick auf 1936 hungrig nach Veränderung. Es war ein Sehnsuchtsort, der Kräfte mobilisieren konnte. Auch die der grandiosen Selbstüberschätzung. Niemand wusste damals, ob man die Spiele würde stemmen können, ob die Architektur überhaupt in diesem Maßstab baubar wäre und wie teuer das alles sein würde.

Es war im Grunde ein Himmelfahrtskommando, wenig bis gar nicht demokratisch, intransparent und am Ende um 1800 Prozent teurer als geplant. Vogel sagte einmal: "Eine Gesellschaft muss die Kraft aufbringen, dafür auch einmal eine Kostenexplosion hinzunehmen." In Zeiten, in denen man ernsthaft den (wenn auch bischöflichen) Kleinbürgertraum einer freistehenden Badewanne in aller Öffentlichkeit diskutiert, wäre Vogel bereits zurückgetreten, bevor er das Wort "Kostenexplosion" auch nur ausgesprochen hätte.

Deutschland braucht diese Spiele nicht

1972: Das war selbstverständlich Gigantismus und Kraftmeierei. Nicht aber, um ein wiedererstarktes, sondern ein wiederbeseeltes Deutschland vorzuführen. Und es war und ging gut. Kein Zweifel, München 1972 würde es heute nicht mehr geben. Man würde die Pläne eines völlig unbekannten Architekturbüros und die utopistische Vorstellung einer U-Bahn dem Bund Naturschutz und der Schwabinger Mitte der Gesellschaft vorlegen und sich daraufhin von alledem verabschieden. Was aber kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt ist. München 2022: Das hätten die ökologischsten und nachhaltigsten Spiele der Welt werden können.

Natürlich: Deutschland braucht diese Spiele nicht. Ob es aber diesen selbstgerechten Verdruss braucht? Dieses Ego-Status-quo-Denken, das - egal, ob Olympia-Bauten und Schneekanonen, Windkraftanlagen und Hochspannungsleitungen, Bahnhöfe und Umgehungsstraßen, Kita-Anbau oder Flüchtlingslager - vor allem daran interessiert ist, dass sich im eigenen Vorgarten nichts tut? In den USA, wo die Nimby-Kriege bekannt sind, ist dieser Vorgarten der Hinterhof. Nimby bedeutet wörtlich: Not In My Back Yard - nicht in meinem Hinterhof. Ob dieser Hinterhof nun Traunstein oder München, Stuttgart oder Berlin-Brandenburg heißt, spielt keine Rolle. Im Einzelfall und im Detail kann man die Kritik an Großvorhaben gut verstehen. Kritik liegt in der Natur der Demokratie und führt idealerweise zu Korrekturen und Verbesserungen. Jetzt innezuhalten: Daran ist etwas Gutes. Zudem bietet sich dann die Chance, sich zu fragen, ob man wirklich für alle Zeit das Dorf von Asterix sein will, für das man sich hält.

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