Großprojekte in Deutschland:Nein, danke

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Früher wurde die Kritik an den Plänen für Großprojekte einfach überjubelt. Heute, bei Olympia 2018 und Stuttgart 21, ist die Angst vor der Zukunft so groß wie nie zuvor. Ist die Gesellschaft depressiv?

Gerhard Matzig

Ohne Frei Otto hätte es das Olympia-Wunder von 1972 nicht gegeben. Aber wenn der damalige Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel allzu viele Bedenken gehabt hätte, wäre der Traum von einem "anderen" Nachkriegs-Deutschland" auch nie gelebt worden. Jedenfalls nicht in Form jener Architektursprache, die bis heute von einem Land erzählt, dessen Dynamik, Technikbegeisterung und Zukunftslust wie mit Händen zu greifen war. Bedenken - als Schatten des Denkens - hatten damals keine Konjunktur. Heute schon. Es ist kein Zufall, dass Begriffe wie "München 2018" oder "Stuttgart 21" nicht mehr zünden. Sie hören sich mittlerweile an wie ein Werbeversprechen jenseits des Verfallsdatums: wie "Strahler 80" etwa - museal.

Angst war der Olympia-Idee von 1972 fremd, dabei wusste damals niemand so genau, ob das Dach realisierbar wäre und was es kosten würde. Die aktuelle Bewerbung aber um die Winterspiele ereignet sich in einer vollständig depressiven und antriebslosen Grundstimmung, (Foto: ddp)

Die einstige Hauptstadt der Bewegung deutete die Olympialandschaft in jener Zeit dennoch um, die Bewegung im Stadtbild von München bekam etwas Schwebendes, Leichtes und auf anmutige Weise Grandioses. Eine ähnlich suggestive Architektur ist zuvor in Deutschland nur im Barock oder auf dem Höhepunkt des Klassizismus errichtet worden, später fast gar nicht mehr, oder in der Schrumpfvariante der Signature Buildings, wie sie vor allem Autokonzerne als Marketingmaßnahmen bauen ließen.

An die Münchner Olympia-Geschichte von 1972 erinnert man sich deshalb gerne, weil die von 2018 in München und Garmisch naht. Natürlich, auch vor vierzig Jahren, zu den Sommerspielen, gab es, ähnlich der heutigen Situation, Kritik und Pessimismus. Die aktuelle Bewerbung aber um die Winterspiele in einigen Jahren ereignet sich in einer so vollständig depressiven, müden, antriebslosen Grundstimmung, dass man sich fragt, was der Gesellschaft die Zukunftslust so gründlich ausgetrieben hat.

Das auf der Stelle tretende Olympia-Gerangel, zu dem die Grünen am Wochenende nach Kräften beigetragen haben, illustriert Deutschland aber nicht allein. Es geht nicht nur um München, Garmisch und Olympia; es geht auch um Stuttgart (Bahnhof), Berlin (Schloss), Hamburg (Elbphilharmonie), Dresden (Brücke) ... es geht um Hochhäuser vieler- und Windkraftanlagen mancherorts. Es geht um Revolte, Bürgerbegehren und die Renaissance des Außerparlamentarischen, dessen Widerspruchsgeist nicht nur die allgemeine Politikverdrossenheit negiert, sondern auch eine Moderneverdrossenheit umfasst, die allmählich gespenstisch wirkt. Vor allem wenn man die Entstehungsgeschichte von München 1972 betrachtet.

Aus heutiger Sicht lässt sich sagen: Das, was damals einigen wenigen Menschen - eher Pragmatiker als Visionäre - gelang, wäre heute schlicht nicht mehr möglich. Das liegt aber weniger an Machern wie Franz Josef Strauß, Hans-Jochen Vogel, Willi Daume oder Günter Behnisch, am Schulterschluss von politischem Durchsetzungswillen, ökonomischer Kühnheit und inspirierendem Kunstsinn also, sondern an der gesellschaftlichen Resonanz. Beziehungsweise mit Blick auf die heutigen Umstände: am Mangel daran - in positiver Hinsicht. Aber nicht die Macher sind ohnmächtiger geworden, die Künstler und Architekten nicht einfallsloser - das Machbare selbst ist nicht mehr selbstverständlich zur Deckung zu bringen mit dem Wünschbaren. Die Blaupausen der Gesellschaft sind im Jahr 2010 unscharf, und deshalb wirken sie auch kraftlos. Kaum je zuvor gab es soviel Angst vor der Zukunft.

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Ganz Schwaben, ach was - ganz Deutschland diskutiert verbissen über einen Bahnhof. Ist das noch normal? Ein Blick ins Ausland rückt die Debatte um Stuttgart 21 in ein ganz anderes Licht.

Angst aber war der Olympia-Idee von 1972 fremd. Die von Günter Behnisch (und vielen anderen Architekten, Ingenieuren und Landschaftsgestaltern) entworfene Olympialandschaft sollte von einem gigantischen, technisch damals einzigartigen Dach beschirmt werden. In den Erinnerungen von Fritz Auer, der als Partner von Behnisch einer der maßgeblichen Planer des Projekts war, kann man das Zustandekommen der Vision nachlesen. Man ist fasziniert. Sicher: Da spielen ein paar Damenstrümpfe der Marke Hudson (zur Illustration des Dachgewebes) eine Rolle, da spielen die Songs von Manfred Mann's Earth Band eine Rolle, aber vor allem spricht aus den Erinnerungen von Auer oder Vogel oder Strauß ein großer Glaube an das Gelingen, ein Zukunfts-Credo, das offenbar überzeugend war. Die Kritik an den Plänen, die es auch gab, wurde nicht unten gehalten - sie wurde einfach überjubelt.

Ein Wunder, dass das Dach noch hält

Damals wusste niemand so genau, ob das Dach realisierbar wäre und was es kosten würde. Frei Otto erzählt noch heute, wie er sich gelegentlich darüber wundert, "dass das Dach noch immer hält". Und Auer und Vogel erzählen von den kalkulierten Kosten, die sich schließlich nicht verdoppelt, sondern verzehnfacht hätten. Was schon damals niemand ausschließen wollte. Aus Sicht der Bahnhofs-Debatte in Stuttgart oder der Philharmonie-Streitigkeiten in Hamburg: Das sind unerhörte Begebenheiten. Einfach undenkbar.

Was hat sich geändert? Warum sind Visionen und Innovationen heute so schlecht beleumdet? Warum misstraut man dem Machbaren, dem Wandel, dem Neuen? Fortschritt ist ein Wort, das Allergien auslöst, Technik ein Feindbild, Großes gilt als antidemokratisch - unabhängig von der Schloss- oder Bahnhofsgestalt. Die Zukunft selbst könnte jederzeit Insolvenz anmelden. Das ist das, was die Proteste gegen kaum vergleichbare Vorhaben eint: Die Projekte erscheinen als zu groß, zu teuer, zu wenig wünschbar...man kann sich schlicht nicht mehr darauf einigen. Die Zukunft hat ihre Strahlkraft eingebüßt.

Dahinter verbirgt sich eine Moderne-Kritik, die man ernst nehmen muss. Obwohl es einerseits seltsam, andererseits folgerichtig ist, dass diese Kritik letztlich genau jener Zeit entspringt, die uns die letzten gesamtgesellschaftlichen Großprojekte beschert hat. Denn in den späten sechziger Jahren ist ja nicht nur das Olympiawunder von München errichtet worden, sondern es wurde auch die Innenstadt von Stuttgart - ein zweites Mal nach dem Krieg - ruiniert. Das Misstrauen, das heute den großen Projekten und Ideen entgegenschlägt, speist sich aus der Vergangenheit. Die Lust an der Zukunft ist uns wohl schon damals vergangen.

Die Moderne war eine Zeit gigantischer gesellschaftlicher Umwälzungen und technisch-wahnwitziger Ideen. Ein Münchner wollte das Mittelmeer tieferlegen, um einen neuen Kontinent zu schaffen ("Atlantropa"). Die Hungersnöte der Welt sollten dadurch gelindert werden. Ein Russe dachte sich einen Lift ins All aus. Ein Amerikaner wollte mit dem Zeppelin Häuser an den Nordpol fliegen. Es ist eine beinahe lustige Geschichte des erhabenen Irreseins. Heute lacht niemand mehr über einen Plan, der am Massachusetts Institute of Technology kursiert. Demnach sollen Amerika und Europa durch eine unterseeische Vakuumröhre miteinander verbunden werden. New York ist dann von London aus in einer Stunde zu erreichen. Niemand interessiert sich dafür. Wir sind zu sehr damit beschäftigt, die Garmischer Wiesen und Stuttgarter Höhlen zu begreifen. Dazu den Juchtenkäfer und die Hufeisennase.

Die Ökologie ist das größte System der Welt, Technik, Kultur oder Ökonomie sind darin Teilgebiete. Es ist richtig, dass die Fragen der Nachhaltigkeit alle anderen Themen dominieren. Wenn wir ihrem grundsätzlichen Bedenkentum aber alle Kräfte der Euphorie opfern, werden wir kaum in der Lage sein, die Probleme der Zukunft zu lösen. Nicht einmal die, die wir selbst im Glauben an die Zukunft verursacht haben.

© SZ vom 23.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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