Großprojekte als Macht-Manifestation:Bau dich unsterblich

Was verbindet Stuttgart 21 und die Skyline von Shanghai? Bauprojekte fördern Wachstum, symbolisieren Aufbruch, manifestieren Macht in Europa wie im Rest der Welt. Sie funktionieren aber nur, wenn kein Bürger aufmuckt - China führt uns das vor.

Andrian Kreye

Man sollte nicht immer jeden historischen Wandel des 21. Jahrhunderts auf die Anschläge des 11. September 2001 schieben, aber: Der Zusammenbruch der Zwillingstürme war der Beginn des Niedergangs der New Yorker Skyline als Symbol für Hoffnung, Aufbruch und Wachstum. Diese Rolle hat nun die Skyline von Shanghai, genauer gesagt, das Wolkenkratzerpanorama des neuen Geschäftsviertels Pudong am Ufer des Huangpu Jiang. Und es ist nicht nur ein Traumbild. Seit fast zwanzig Jahren kann Shanghai zweistellige Wachstumszahlen melden.

Hochäuser in Pudong, 2002

Seit fast zwanzig Jahren kann Shanghai zweistellige Wachstumszahlen melden. Das Wolkenkratzerpanorama des neuen Geschäftsviertels Pudong in Shanghai übernimmt die Rolle als Symbol für Hoffnung, Aufbrauch und Wachstum.

(Foto: AP)

Die Ablösung hat sich in Europa und Amerika noch nicht so deutlich vollzogen wie im Rest der Welt. Im Westen hat Pudong seinen neuen Status noch im Unterbewusstsein. In Afrika und Asien hat der Oriental Pearl Tower mit seinen drei monumentalen Kugeln allerdings einen ähnlichen Symbolwert wie das Empire State Building. Dort findet man die Skyline von Pudong bereits auf Plakaten und Wandgemälden.

Stadtpanoramen waren schon immer das beste Bild, um in der kollektiven Wahrnehmung wirtschaftliches Wachstum und kulturelle Macht zu verdeutlichen. Wobei es eigentlich nicht Manhattan ist, das dem Unterbewusstsein als Blaupause für diesen Sehnsuchtsreflex dient, sondern Paris.

Seit seiner Eröffnung zum Beginn der Weltausstellung von 1889 hat der Stahlfachwerkturm den Ehrgeiz der Mächtigen beflügelt, sich in der Skyline ihrer Städte zu verewigen. Dem Pearl Oriental Tower war er offensichtliches Vorbild. Das Chrysler und das Empire State Building waren entfernte Zitate. Doch auch Großprojekte wie Bahnhöfe, Sportstadien oder Konzertsäle sind letztlich ein Echo jener städtebaulichen Sinnstiftung aus den Frühzeiten der Industriegesellschaft.

Das ist auch der Grund, warum sich die Debatten um Großprojekte nur vordergründig um Geld und Nutzwert drehen. Es geht immer auch um Kultur und Seele einer Stadt, eines Landes, einer Gesellschaft. Hierzulande sind das derzeit die Debatten um Stuttgart 21, den Münchner Hauptbahnhof, Konzertsäle in München, Hamburg und Bonn sowie das Großprojekt möglicher Olympischer Winterspiele in München.

Direkte historische Linie in die Moderne

Die einfachste Analyse dieser Debatten findet man in dem Buch "Der Architekturkomplex" des Designtheoretikers Deyan Sudjic. Der zieht von den Pyramiden über den Taj Mahal, Versailles und die Diktaturen des 20. Jahrhunderts eine direkte historische Linie in die Moderne. Große Architektur, so Sudjic, war immer die Manifestation einer immanenten Profilneurose der Macht. Im 21. Jahrhundert funktioniert diese These nicht mehr ganz so einfach.

Der Aufstieg der Skyline von Shanghai zum globalen Symbol für Aufbruch und Wachstum birgt im Unterbewusstsein Europas und Amerikas eine viel schwierigere Erklärung in sich. Es ist nicht nur die Sehnsucht nach der archaischen Aufbruchstimmung der industriellen Revolution, sondern auch nach der schlichten Wachstumsmaxime, die Yasheng Huang, Wirtschaftspolitologe am Massachusetts Institute of Technology, als "Shanghai Theorie des Wachstums" bezeichnete.

Nach dieser Theorie wird nationales Wachstum vor allem vom Aufbau von Infrastruktur getrieben. Dieser Aufbau aber funktioniert nur dann reibungslos, wenn ihn Staat und Wirtschaft ohne den Widerstand der Bürger vorantreiben können. Und wenn der Staat genügend Land besitzt oder zumindest die Verfügungsgewalt darüber hat, dass Großprojekte ohne langwierige Verhandlungen realisiert werden können.

Das kapitalistische Äquivalent zur Ostalgie

Der Aufbau der Eisenbahn- und Autobahnnetze funktionierte so. Das heimliche Faible für die Shanghai Theorie ist damit nichts anderes als das kapitalistische Äquivalent zur Ostalgie in ehemals sozialistischen Ländern. Ähnlich wie man dort in Zeiten der Krise der Sicherheit eines autokratischen Systems nachhängt, steht die Shanghai Theorie für eine Zeit, in der Aufbruch, Wachstum und Wohlstand eine klare Entwicklung nahmen. In Europa und Amerika stellt sich aber inzwischen die Frage: Welche Infrastrukturen können dort noch Wachstum antreiben?

Dilemma zwischen Großtraum und Realität

Die Erklärung des Dilemmas zwischen Großträumen und städteplanerischen Realitäten findet sich weniger in Deyan Sudjics "Architekturkomplex" als in dem obskuren Buch "The Baseball Economist" des Wirtschaftswissenschaftlers John Charles Bradbury von der Kennesaw State University in Atlanta. In seinem Kapitel über Sportstadien definiert Bradbury das Dilemma als die Kluft zwischen sichtbarem und unsichtbarem Wachstum. Ein neues Sportstadion gehört zu den sichtbarsten Formen des Wachstums. Zum einen, weil es im Stadtbild einen prominenten Platz haben wird. Zum anderen, weil die Bevölkerung mit der Ausnahme von Bahnhöfen und Flughäfen keine Gebäude so häufig nutzen wird wie ein Sportstadion.

Allerdings, so rechnet Bradbury vor, schaffen Sportstadien, die mit öffentlichem Geld subventioniert werden, für die Kommune selbst nur einen ideellen Mehrwert. Jedes Großprojekt lässt sich schönrechnen. Das Grundproblem öffentlich finanzierter Stadien sei jedoch, dass es öffentlichen Wohlstand lediglich umschichtet. Denn die Arbeitsplätze, die ein solches Projekt schafft, sind entweder zeitlich begrenzte Stellen in der Bauindustrie oder schlecht bezahlte Saisonjobs in der Serviceindustrie, wie dem Getränke- und Souvenirverkauf. Zusätzlich werden die Spitzengehälter der Sportler und des Managements quersubventioniert. Und das alles für ein Bauwerk, das im Fall eine Stadions vor allem an Sommerwochenenden genutzt wird.

Wer davon profitiert, sind vor allem privatwirtschaftliche Kräfte. Früher, so Bradbury, war das anders. Da finanzierten die privaten Unternehmer und Mäzene die Stadien noch selbst. Im Groben lässt sich diese Rechnung auch auf Großprojekte wie Konzertsäle, Museen und Messezentren umrechnen.

Die wirtschaftlich dynamischen Infrastrukturen des 21. Jahrhunderts sind aber keine traditionellen und sichtbaren Projekte. Es sind unsichtbare Strukturen, die einem Stadtoberen, einem Finanzier oder Planer all den klassischen Glamour verweigern, den ein Großbau mit sich bringt - die Möglichkeit, dem Ding einen Namen zu geben, der weithin sichtbar auf einer Tafel angebracht wird, die Veränderung des Stadtbildes, der Pomp einer feierlichen Eröffnung, der Platz in der Stadtgeschichte.

Doch Europa und Amerika verfügen längst über die Hardware der Infrastruktur, sie brauchen keine Großbauprojekte. Was fehlt, ist die Software. Freie W-Lan-Netze für ein gesamtes Stadtgebiet. Der Aufbau von Energiestrukturen für die Elektromobilität. Die Erhöhung der Siedlungsdichte. Infrastrukturen für das sogenannte "Creative Capital", also die qualifizierten Arbeitskräfte von außen, die von Bildungseinrichtungen über Kinderbetreuung bis zum Aufbau von Glasfasernetzen reichen.

Vor allem aber gehört die Modernisierung bestehender Infrastrukturen dazu, die in den europäischen und amerikanischen Metropolen in vielen Bereichen das Haltbarkeitsdatum überschritten haben. Doch was ist schon die Renovierung einer Brücke oder der Ausbau einer eingleisigen Bahnstrecke gegen den Bau eines Stadions? Wer wird sich an den Mäzen eines W-Lan-Netzes erinnern?

Die zweistelligen Wachstumsraten aus den Schwellenländern, die ihre Infrastrukturen noch erschließen müssen, werden allerdings noch lange die Wirtschaftsnachrichten bestimmen. China wird bis zum Jahr 2025 gut 40 Milliarden Quadratmeter Bausubstanz in rund fünf Millionen Gebäuden errichten. Das entspricht rund zehn New York Citys. So wird der Traum vom Großprojekt als Schlüssel zur urbanen Unsterblichkeit fortleben. Auch wenn er bei uns keinen Zweck mehr erfüllt.

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