Süddeutsche Zeitung

Großformat:Tanzendes Haus

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Die Architektin Anna Heringer hat ein Zentrum für Behinderung entworfen, das in Bangladesch entsteht, einem Land, in dem Behinderung oft noch als Strafe Gottes angesehen wird. Gerade wird der Rohbau aus Lehm, Bambus und Holz fertig.

Von Laura Weissmüller

Es sieht aus, als würde der Entwurf zu den Worten von Tagore tanzen: Die schwungvolle Linie macht einen Schritt zur Seite, nach unten, dann um die Kurve und hoch über die Rampe in den ersten Stock! Die Energie ist ansteckend und so ungefähr das Gegenteil von der einer rechtwinkligen Gebäudeschachtel, in dem sich das meiste unseres modernen Lebens abspielen muss.

"Der Bau tanzt aus der Reihe, um zu zeigen, dass es schön ist, anders zu sein", sagt Anna Heringer. Die deutsche Architektin hat das Zentrum für Menschen mit Behinderung, in dessen Obergeschoss eine Textilwerkstatt einziehen wird, entworfen. Gerade wird der Rohbau aus Lehm, Bambus und Holz in Bangladesch fertig. Sich um Menschen mit Behinderung zu kümmern, dafür zu sorgen, dass sie Physiotherapie bekommen und durch eine gezielte Förderung auch eine Zukunftsperspektive, ist etwas völlig Neues in dem Land. Gerade in dörflichen Regionen, "wo jede Hand auf dem Feld gebraucht wird", so Heringer, und die Behinderung oft als Strafe Gottes angesehen werde. Deswegen sollte sich in der Gestaltung der Architektur sofort ablesen lassen, dass hier etwas Neues passiert. Die Rampe in den ersten Stock zu den Schneiderinnen zog die Architektin deswegen auch ganz bewusst um das Gebäude außen herum, statt sie im Inneren zu verstecken. Inklusion soll hier kein frommer Wunsch sein, sondern beeinflussen, wie man sich durch das Gebäude bewegt.

Mit dem Projekt Anandaloy, in Auftrag gegeben von der Entwicklungsorganisation Dipshikha und finanziert von der Kadoorie Foundation und dem Lutz & Hedda Franz Charitable Trust, macht Heringer, die für ihre Arbeit zahlreiche Preise gewann, ihre Projekte in den wichtigsten Ausstellungshäusern zeigt und an renommierten Universitäten lehrt, dort weiter, wo alles begann. In dem kleinen Dorf Rudrapur. Hier entwickelte sie die Strategie, konsequent lokale Materialien wie Lehm und Bambus einzusetzen, aber auch die Fähigkeit, wie man damit umgeht, um das Ganze dann mit globalen Know-how zu veredeln. "Wissen ist nicht auf einen Ort beschränkt, aber es muss auf die lokalen Gegebenheiten angepasst werden", erklärt Heringer ihren Grundsatz. Der hat sich in Rudrapur schon so verwurzelt, dass die lokalen Handwerker den anspruchsvollen Lehmbau nahezu ohne Hilfe von Heringer und ihrem Team ausführen konnten.

Mit ihrem kleinen Büro Studio Anna Heringer im oberbayerischen Laufen entwickelt die Architektin Projekte auf der ganzen Welt. Sie alle zeigen wie aus Lehm, einem der ältesten Baumaterialien überhaupt, eines der Zukunft werden kann. Mit Lindsay Blair Howe und Martin Rauch hat Heringer darüber auch das Buch "Upscaling Earth" geschrieben, das im Herbst im GTA-Verlag erscheint. Im vergangenen Jahr entstand nun auch das erste Projekt von Heringer in Deutschland. Mit Martin Rauch entwarf sie zum 1000. Weihejubiläum des Wormser Doms einen neuen Altar aus Lehm, den sie mit der Gemeinde bauten. Gibt es etwas, was ihre Projekte in Rudrapur und das in Worms verbindet? "Partizipation hat für mich nicht nur etwas mit mitreden zu tun, sondern auch mit dem Prozess des gemeinschaftlichen Bauens. Indem man etwas zusammen baut, baut man auch eine Gemeinschaft auf." Dieser Zweck dürfe weltweit so wichtig sein wie der Lehm, den Anna Heringer am liebsten benutzt.

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Quelle:
SZ vom 25.05.2019
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