Großformat:Straße der Wunden

Die Nußbaumstraße in München zieht die Schriftstellerin Katharina Adler merkwürdig an. Ein paar der Geschichten, die sie dort findet, hat sie hier notiert.

Von Katharina Adler

Eine Champs-Élysées ist sie nicht. Mit dem Broadway oder der Wall Street ist sie auch nicht zu vergleichen. Die Straße in München, sie ist kein touristischer Sehnsuchtsort, dem Songs und Filme gewidmet wurden, weil es vermeintlich mehr von allem dort gibt: mehr Glanz, mehr Geld, mehr Macht, mehr Rausch, mehr Sex. Es geht auch nicht um jene Promenade der Stadt, wo das Versprechen Luxus lautet. Die Maximilianstraße, für die sich manche extra aufpolieren, weil allein schon das Trottoir einen Anspruch auf Protz zu haben scheint.

Die Straße, die ich meine, für die behängt sich niemand extra mit Schmuck. Einen gewissen Bekanntheitsgrad hat sie aber doch. Mir war sie Begriff, bevor ich je dort war. Es wurde über sie gesprochen, nein eher gemunkelt in ernstem Ton. "Der musste in die Nußbaumstraße", hieß es. Nußbaumstraße. Ein guter Name eigentlich. Einer, der Kindheitserinnerungen bergen könnte: Die Schule ist aus, vielleicht sind sogar Ferien. Die Nußbaumstraße ist Treffpunkt für breites Grinsen aus Zahnlücken. Hier wird um die Wette gerannt, Verstecken gespielt, gerauft bestimmt auch, ein erster Kuss zwischen zweien, die noch nicht aufgeklärt sind. Das alles natürlich im Schatten der Bäume, die die Straße säumen. Und dann fällt den Küssenden noch eine Nuss zwischen die Köpfe, als eine von beiden überlegt, Zunge könnte man auch benützen.

"Der musste in die Nußbaumstraße." In München heißt das: Einlieferung in die Psychiatrie. Diese Nußbaumstraße ist meiner Kindheit näher als Bäumeklettern oder Zungenexperimente. Über einige Jahre kam regelmäßig der Anruf: meine Tante, sie war Flötistin, hatte Episoden, da sprach Mozart mit ihr, oder aber die Wände ihrer Wohnung beschimpften sie, sie klinge mit ihrer Querflöte, als pfeife sie aus dem letzten Rohr. So ein Anruf hieß, früh samstags aus dem Bett, im Stau auf der Autobahn ausharren, um dann auf dem Krankenhausparkplatz warten zu müssen, bis meine Mutter ihre Schwester besucht hatte. Es hieß Krisengespräche mit meinen Großeltern. Es hieß, dass die eigenen Sorgen immer unbedeutender waren, als die große Sorge der Familie. Die war eine Daueranspannung, die ich erst jetzt, Jahrzehnte später, als solche empfinde. Damals gehörte sie dazu wie Hausaufgaben und die Furcht vor dem nächsten Zeugnis. Eine Tante zu haben, die pendelte zwischen ihrer Wohnung und der Psychiatrie, zwischen Medikamentenhochs und Medikamententiefs, zwischen dem Wahn Genie und dem Trugschluss, absolut wertlos zu sein, das hieß für mich über das Krankheitsbild einer Schizophrenen recht genau Bescheid zu wissen, noch bevor ich aufgeklärt war.

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(Foto: Stefanie Preuin)

Meine Tante lebte nicht in München, aber wäre sie hier gewesen, sie hätte wohl in die Nußbaumstraße gemusst, immer und immer wieder. Deshalb hatte die zunächst keinen guten Klang für mich, da wollte ich nicht hin. Doch dann zog ich gleich ums Eck, die Nußbaumstraße wurde meine Nachbarschaft, sie wurde unausweichlich. Ich radelte durch sie hindurch, ich lief dort entlang, sah mir das Gründerzeithaus an, in dem die psychiatrische Ambulanz untergebracht ist. Prächtig. Erbaut von Max Littmann. Das Hofbräuhaus und das Münchner Prinzregententheater sind auch von ihm, wie unzählige andere Theater in Deutschland, deren Zuschauersäle er demokratisierte. Nicht mehr nur die Adligen konnten bei Littmann die Bühne gut sehen, sondern alle Bürger. Kein schlechtes Werk für einen Architekten: Bier- und Kulturtempel für alle, und die psychiatrische Anstalt, wenn aller Alkohol und Kunstgenuss den Seelenschmerz einfach nicht lindern kann.

Eine Unbeschwertheit ging damals verloren, eine Zuversicht, die ich mir bis heute wieder erarbeiten muss

Meine Tante ist schon lange nicht mehr. Ich war noch immer nicht aufgeklärt, da hatte ich gelernt, wie man darüber sprechen soll, wenn jemand im vierten Stock das Fenster öffnet, sich aufs Sims setzt, springt. In der Schule sollte ich sagen, sie habe den Freitod gewählt, als ich bei der Rektorin vorsprach, um für die Beerdigung zwei Tage vom Unterricht entbunden zu werden.

Damals, als mir meine Mutter diesen Satz einprägte, weil sie das für die würdigste Formulierung hielt, war das ein früher Moment, in dem ich mich wunderte, wie vielfältig Sprache sein kann: den Freitod wählen, sich aus dem Fenster werfen, sich selbst entleiben, Suizid begehen, sich umbringen, das Leben nehmen. So viele Wendungen für ein Ereignis meiner Kindheit, mit dem ich noch immer ringe. Eine Unbeschwertheit ging damals verloren, eine Zuversicht, die ich mir bis heute wieder erarbeiten muss, nur in seltenen Momenten kommt sie über mich wie ein Geschenk, das ich nicht erwartet habe. Aber meistens ist es ein Hadern und Sich-Vornehmen und Mühen und es gibt Zeiten, da helfen nur Substitutionsmittel. Unbeschwertheit und Zuversicht ersetze ich durch eine Neugier, die sich in der unaufhörlichen Suche nach erzählenswerten Geschichten äußert.

Zu Beginn der Nußbaumstraße liegt der Nußbaumpark, das Wohnzimmer der Junkies und Wohnungslosen, die im Sommer durch einen Pop-up-Biergarten vertrieben worden sind. Jetzt, da die Blätter sich verfärben und der Biergarten verschwunden ist, sind sie wieder an ihrem Stammplatz, brüllen sich manchmal an, finden aber meistens wenigstens eine kleine Sicherheit in ihrer Gruppe. Nach dem Grün die Straße entlang, zur Linken und zur Rechten Krankenhäuser, die Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, die Kinderklinik, die Psychiatrie und das Institut für Rechtsmedizin. Die Nußbaumstraße, in gewisser Weise ist es eine Schmerzensgasse, ein Ort voller Wunden, Nähte, Verbände.

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(Foto: Stefanie Preuin)

Seit sich diese Nachbarschaft mir aufgedrängt hat, versuche ich, diese Schmerzensgasse aber gar nicht mehr zu meiden. Im Gegenteil, ich wurde neugierig, plötzlich zog es mich da hin. Ich machte die Nußbaumstraße zu meinem Recherchegebiet. Eine Pirsch begann - nach der Geschichte dieser Straße, nach Impressionen, die es zu beschreiben lohnt.

Solch ein Moment, nicht lange her: Ich sitze auf einer Bank, warte, beobachte, behaupte vor mir selbst, dieser Müßiggang sei Arbeit. Es ist ein kühler Tag kurz vor Frühling, gerade warm genug, um mit Schal und Mütze eine Weile draußen zu verbringen. Ein Polizei-Sixpack fährt vor. Vorne steigen zwei Beamte aus, ziehen sich Plastikhandschuhe über, öffnen die Schiebetür des Vans. Sie packen nackte geknebelte Füße. Ziehen einen jungen Mann heraus, nur mit Unterhose und einem Mundschutz bedeckt, auch die Hände mit Kabelbindern gefesselt. Zwei weitere Polizisten halten ihn an den Schultern. Wie eine Prozession, die vier, die den kaum Bekleideten die Stufen hinauf in das Gebäude der Rechtsmedizin tragen. Zwanzig Minuten später schleppen sie ihn wieder hinaus, hieven den jungen Mann, der nur dabei zusehen kann, wie er manövriert wird, zurück in den Wagen. Weshalb verhüllen sie den Wehrlosen nicht? Wer hat hier mehr Gewalt ausgeübt? Es ist eine zwiespältige Situation. Die bayerische Polizei, von der ich nicht immer eine gute Meinung habe, hier sind es vier Beamte, nicht älter als ihr Gefangener, die trotz allem eine gewisse Behutsamkeit walten lassen. Vorsichtig gehen sie mit dem fast nackten Mann um, achten darauf, dass ihm nichts am Kopf passiert. Aber ist das eine übliche Vorgehensweise, diese Entblößung vor aller Augen?

Die Verquickung von Politik und Psychiatrie ließ die Nußbaumstraße zu Münchner Revolutionszeiten nicht gut dastehen

Eindeutiger ist, was hundert Jahre zuvor geschah: "Ihr Geld, Ihr Nasentuch und was Sie sonst in der Tasche haben", forderte eine Dame von dem Dichter und Revolutionär Ernst Toller, der aus politischen Gründen in die Nußbaumstraße eingeliefert wurde. Nachdem seine Habe einkassiert worden war, wurde er gezwungen, sich auszuziehen und zu waschen. Dann verbrachte er schlaflose Nächte im "Saal der Melancholiker", wie Toller es in seiner Autobiografie beschreibt. Vier insgesamt, bevor er wieder entlassen wurde. Der Deutsch-Nationale Leiter der Psychiatrie, Emil Kraepelin, hielt es mit dem widerständigen Toller einfach nicht aus: "Das Gesicht des Herrn Professor rötet sich", schreibt Toller, "mit dem Pathos des manischen Versammlungsredners sucht er mich von der Notwendigkeit alldeutscher Politik zu überzeugen, ich lerne, dass es zwei Arten Kranke gibt, die harmlosen liegen in vergitterten klinkenlosen Stuben und heißen Irre, die gefährlichen weisen nach, dass Hunger ein Volk erzieht, und gründen Bünde zur Niederwerfung Englands, sie dürfen die harmlosen einsperren."

Die Verquickung von Politik und Psychiatrie ließ die Nußbaumstraße zu Münchner Revolutionszeiten nicht gut dastehen. Psychiatrische Gutachten wurden von Kraepelin aus politischen Gründen erstellt. Die Pazifisten und Vorkämpfer für Demokratie sollten als wahnsinnig abgestempelt werden.

Dieser Kraepelin ist heute nicht mehr besonders bekannt. Sein wissenschaftlicher Assistent gelangte dagegen zu Weltruhm. Der Assistent untersuchte das Gehirn einer schwer verwirrten Patientin und machte dabei abgestorbene Nervenzellen und Eiweißeinlagerungen aus. Die weltweit erste Alzheimer-Patientin, sie wurde von Alois Alzheimer in der Nußbaumstraße entdeckt. Und noch so ein erstes Mal, das dieser Straße eingeschrieben ist: Vor fünfzig Jahren wurde das Herz der verunfallten Emma Salvermoser in die Brust des 37-jährigen Josef Zehner verpflanzt. Dreißig Ärzte waren anwesend bei Deutschlands erster Herztransplantation, die an sich erfolgreich war, und doch! Siebenundzwanzig Stunden schlug Emma Salvermosers Herz im fremden Körper. Dann hat eine Thrombose dem Organ und damit auch dem Josef Zehner den Garaus gemacht. Ich muss nicht nur in der Straße herumsitzen oder in der Geschichte wühlen, um Erzählenswertes aus der Nußbaumstraße herauszuholen. Mittlerweile habe ich auch einen Informanten. Jemanden, der mich mit Anekdoten aus dem Krankenhauskomplex versorgt. Die Geschichten bekomme ich, weil ich einmal eine Ode auf die Nußbaumstraße gesungen habe, meine Faszination, mein Interesse dafür, was sich dort abspielt. Der Informant fühlte sich geschmeichelt über so viel Aufmerksamkeit für seine Arbeitsstätte und gibt mir ab und zu Stoff in leichten Dosen. Wie die Geschichte eines am Fuß operierten Herrn, der nach seiner Entlassung auf der Station anrief: Drei Patientinnen sollten bitte informiert werden, dass er nicht nur einen maladen Fuß hatte, sondern auch eine Geschlechtskrankheit.

Eine andere Geschichte, die ich leider auch nur anreißen darf, dreht sich um einen Schönheitschirurgen, eine unzufriedene Patientin und ein Gewehr. Die würde ich viel lieber ausführlich hier einflechten, um noch ein wenig hinauszuzögern, dass ich dann doch einmal zu Besuch in der geschlossenen Psychiatrie war. Der langjährige Nachbar meiner Eltern, der mein Aufwachsen im zweiten Stock vom Erdgeschoss aus begleitet hatte, musste in die Nußbaumstraße. Als ich ihn besuchte, sah ich das, was mir in meiner Kindheit, vor Krankenhäusern wartend, erspart geblieben war. Glieder träge von Beruhigungsmitteln, kaum jemand brachte das Essen zum Mund, nirgends ein Wille, höchstens innere Kämpfe, lautlos gestellt.

Ich wünschte, ich könnte behaupten, ich sei noch eine Weile geblieben

Unser Nachbar hatte ein Einzelzimmer. Die Fenster verschlossen, die Griffe angeschrägt und auch die Heizung so verbaut, dass hier niemand sich das antun konnte, wofür es so viele Wendungen gibt. Unseren Nachbarn hatte ich früher als einen Grandseigneur erlebt. Der Grandseigneur in seinem Sessel thronend. Immer noch ein Wodka vor ihm. Dazu Gurken, Brot und Geschichten über sein Fotogeschäft. Das hatte eine Prachtlage auf noch so einer Allee, die in München einstmals einen speziellen Ruf genossen hat, der Leopoldstraße. Dann kam die Digitalisierung der Kamera, die ersten Handyschnappschüsse, aber zum Glück auch Fielmann. Der Brillenmogul buhlte um seinen Laden in bester Lage, ich behaupte jetzt mal, weil das eine schöne Vorstellung ist, Günther Fielmann buhlte ganz persönlich darum. Sein Geschäft abzugeben, hat sich mein Nachbar jedenfalls vergolden lassen und davon im Ruhestand sehr gut gelebt. Warum er in die Nußbaumstraße musste? Ich ahnte es nur, als mein Nachbar, ehemals Grandseigneur, nun gebeugter Greis, in dem Zimmer der psychiatrischen Ambulanz wuterfüllt flüsterte, er hasse seine Frau so, wie er noch nie jemanden gehasst habe.

Impressionen Nussbaumpark. Europa, Germany, Munich. Foto: Stefanie Preuin
(Foto: Stefanie Preuin)

Über die Jahre hatte ich meinen Nachbarn als überaus charmant und großzügig erlebt. Manchmal war er auch herrisch und unleidlich gewesen. Aber so eine Bitterkeit kannte ich von ihm nicht. Sein Ausbruch machte mir Angst, obwohl ich ahnte, dass ihm das Alter seine Gefühle vorgaukelte, weil hassen wohl leichter für ihn war, als noch einmal durchleben zu müssen, alle Geschwister in Konzentrationslagern zu verlieren. Ich wünschte, ich könnte behaupten, ich sei noch eine Weile geblieben und hätte ihn von seinen als Hass hochschießenden Schmerzen abgelenkt. Ich hätte ihn fragen können, welches nun der beste Wodka sei, der aus Kartoffeln, aus Roggen oder der aus Zuckerrüben. Darüber hatte er früher gerne doziert. Aber ich habe mich so schnell wie möglich verabschiedet - überfordert, ängstlich, beschämt. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.

Wenn ich die Nußbaumstraße durchquere, muss ich nicht immer an diese endgültige Begegnung denken. Auch darf nicht der Eindruck entstehen, es geschieht etwas Erzählenswertes, sobald man hier einbiegt. Meist ist es ruhig. Und doch bin ich, wenn es in die Nußbaumstraße geht, immer bereit, halte meine Augen offen, laufe auch ein bisschen langsamer. Es ist schon wesentlich wahrscheinlicher, dass hier etwas passiert, als sagen wir mal in der nahegelegenen Mathildenstraße.

Meine besten Minuten habe ich allerdings wahrscheinlich hier schon erlebt. Das war letzten Sommer. Es gab keinen Kuss, keine Nuss, keine Zahnlückenkinder, keine Verhaftung, keinen Streit. Es war nur ein unauffälliger Moment, in dem sich das Leben auf sonderbare Weise mit der Imagination verbündete. An einem warmen Abend, kam ich auf dem Heimweg wieder einmal an der Psychiatrie vorbei. Oben waren die ateliergroßen Fenster geöffnet. Aus ihnen drang Musik. Jemand übte ein Instrument, eine Querflöte. Auch wenn sich die Flöte immer wieder verhaspelte, neu ansetzte, hektisch Passagen probierte, in dem Spiel, das war doch deutlich vernehmbar, lag jahrelange Übung. Ich stand auf der Straße, blickte hoch, hörte zu. Nicht nur der Flöte. Meiner Tante. Die Passagen wiederholten sich, es folgte keine neue musikalische Wendung, ein wenig eintönig wurde es zuzuhören, aber fort konnte ich nicht. Ich hatte in dem Moment das Gefühl, es sei meine Aufgabe zuzuhören und sich auch noch um eine andere Sache zu kümmern. Deshalb tat ich etwas, was ich sonst wirklich nicht mache, ich sprach mit den Wänden da oben. Ich redete auf sie ein, stillzuhalten, auf keinen Fall Kritik an dieser Querflöte zu äußern. Und wenn sie schon meinten, etwas sagen zu müssen, die Wände, bat ich sie eindringlich, dann nur um zu ermuntern, dass jede gespielte Note gut sei, eine Freude, gut genug auf jeden Fall, dass diese Flöte weiterspiele, immer weiter.

Zuletzt erschien von Katharina Adler der Roman "Ida" im Rowohlt Verlag.

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