Großformat:Missbrauchte Moderne

Der Berliner Künstler Leon Kahane hat sich auf die Spuren seiner jüdischen Großmutter begeben. Sie führte ihn zu einem modernistischen Wohnprojekt bei Paris, das die Nazis als Lager nutzten.

Von Alex Rühle

Wie soll man gedenken? Welche Geschichten werden gehört - oder überhaupt erzählt? Und wie kann institutionelles Erinnern gelingen, aufklärend und zugleich ergreifend, ohne dass es zu Ritualen verkommt? Am 28. November eröffnet im Münchner NS-Dokumentationszentrum die Ausstellung "Tell me about yesterday tomorrow", in der sich 30 Künstlerinnen und Künstlern mit der Deutung von Vergangenheit und der Anknüpfung an unsere Gegenwart beschäftigen. Die Ausstellung greift explizit den politischen Kontext einer global erstarkenden Rechten auf: Wie erinnert man in Zeiten, in denen historische Tatsachen offiziell umgedeutet, verwischt, verschwiegen werden? Einer der ausstellenden Künstler ist der Berliner Leon Kahane. Seine jüdische Großmutter, die Malerin Doris Kahane, war als junge Frau in Drancy interniert, einem Lager bei Paris, von dem aus über 67 000 Menschen nach Auschwitz deportiert wurden. Sie hat mehrere Zeichnungen von inhaftierten Kindern angefertigt, die meist sofort bei der Ankunft von ihren Eltern getrennt wurden (oben). Leon Kahane war überrascht, als er auf seiner Recherche merkte, dass die Nazis das Lager in einem Gebäudekomplex untergebracht haben, der ursprünglich Teil der Cité de la Muette, eines modernistischen Arbeiterwohnprojekts war, von Marcel Lods und Jean Prouvé geplant als "vertikale Gartenstadt", in dem man den Bewohnern "Licht, Luft und ungestörtes Privatleben" versprochen hatte. "Es ist interessant zu sehen, wie die antimodernen Nazis sich die Moderne stets gefügig gemacht haben. Das Ensemble war für sie enorm praktisch, weil man darin viele Menschen unterbringen und überwachen konnte," so Kahane: "Dieses Phänomen gleichzeitiger Abwertung und Aneignung der Moderne durch antimoderne politische Kräfte feiert gerade eine Renaissance - man braucht sich nur anzuschauen, wie die Rechtspopulisten die sozialen Medien kapern." Paradoxerweise steht ausgerechnet der Teil der Cité, der als Lager diente, immer noch und beherbergt Sozialwohnungen, in erster Linie für Migranten. An die Lagerzeit erinnern zwei unterschiedliche Dokumentationszentren. Eines ist Teil des großen Mémorial de la Shoah in Paris, entworfen von den Architekten Diener & Diener, "auf dem neuesten Forschungsstand, mit großem Archiv", so Kahane. Das andere ein winziges Museum, das von Nachkommen der Überlebenden mitten in der Cité betrieben wird und Fotos der Inhaftierten zeigt. "Dieser zweite Ort ist persönlicher, anrührender", so Kahane. "Im Grunde sagt er vor allem: Wir sind noch da." Zwei Arten des Gedenkens, beide unabdingbar. Wie können sie in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden? In Drancy herrscht Funkstille zwischen den beiden Orten und Vereinen.

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