Großformat:Jäger der Momente

Maurerlehrlinge
Berlin
1980
(Foto: Roger Melis)

Der Bildhauer-Sohn Roger Melis war der berühmteste Fotograf der DDR - sein Nachlass birgt Bilder, die einen überraschenden Blick auf den Osten werfen.

Von Gustav Seibt

Die Frisuren der beiden freundlich lächelnden Berliner Maurer - offensichtlich handelt es sich um Zwillinge - verweisen auf einen präzise datierbaren Moment: Wir sehen ein Bild aus dem Jahr 1980. Aufgenommen hat es Roger Melis, der berühmteste Fotograf der DDR. Melis, geboren 1940 als Sohn eines Bildhauers, war Ziehsohn des Dichters Peter Huchel. Er wurde zum führenden Porträtisten der Ostberliner Literatenszene. Zugleich entwickelte er die klassische Reportagefotografie in Schwarzweiß weiter, dies aber immer seltener für die Journale seines Landes, denn das Regime nahm ihm seine Freundschaft mit Dissidenten wie Wolf Biermann übel. Melis "beauftragte sich selbst", wie der Fotohistoriker Mathias Bertram erklärt, Erbe von Melis, der 2009 starb.

Bertram hat jetzt zum zehnten Todestag des Fotografen eine wundervolle Ausstellung in den Berliner Reinbeckhallen zusammengestellt (noch bis 28. Juli). Das Fabrikgelände befindet sich in Schöneweide, dem Ort der längst stillgelegten Ostberliner Industrie, Schauplatz der "Vier Werkzeugmacher" von Volker Braun. An die Zeit dieser alten Industrie und des mit ihr verbundenen Handwerks erinnert auch unser Bild aus dem Nachlass von Melis (erschienen 1980 in der Wochenpost). Lässig halten die jungen Männer ihr Werkzeug, als kämen sie aus der Welt von August Sander, dem großen Fotografen aller Stände und Berufe in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts. Melis spielt mit Rolle und Individualität seiner Figuren, zugleich zitiert er unaufdringlich die Geschichte der Fotografie. Ein untergründiger Witz durchzieht bei ihm die verschwindende Welt der alten Arbeit.

Der Titel der Berliner Ausstellung heißt "Die Ostdeutschen". Auch das ist ziemlich doppelbödig. Lässig formuliert es einen Anspruch auf Klassizität, weil es an Robert Franks "Die Amerikaner" oder René Burris "Die Deutschen" erinnert. Zugleich bedeuten diese Bilder einen Einspruch gegen die aktuelle Ethnisierung der Ostdeutschen als Wutstamm und Frustkollektiv. Sie erinnern an die Differenz von Regime und Bevölkerung, in der alles Mögliche gedieh: Melancholie, Ironie, Eigensinn, Ungläubigkeit, Abwarten. Vor allem aber Widersprüche: Wir sehen Paraden, aber aus der Sicht erschöpfter Soldaten und gelangweilter Zuschauer. Neubauten aus Platten und malerisch bröckelnde Altbauten stehen abrupt nebeneinander. Viele spielende Kinder, Jugendliche mit wilden Frisuren - die späte DDR war eine junge Gesellschaft. Dies alles erfasst von dem freundlichen langsamen Blick des geduldigen Jägers der Momente mit seiner raschen, sicheren Hand.

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