Süddeutsche Zeitung

Großformat:Im Weltsommer

Der schärfste Kritiker, den es in Deutschland je gab, war Alfred Kerr. So hart er mit manchen Zeitgenossen umging, für eines schwärmte er: Amerika - wie auch diese Postkarten zeigen.

Von Marie Schmidt

Alfred Kerr war drei Mal in Amerika. Kurz bevor der Erste Weltkrieg ausbrach, im Mai 1914, fuhr er mit dem Dampfer "Vaterland" nach New York. Er war 46 Jahre alt, als Theater- und Literaturkritiker berühmt und in harte Fehden und interessante Liebesgeschichten verwickelt. Amerika scheint ihm wirklich eine neue Welt bedeutet zu haben: "Womit verbring ich meine Zeit?", schrieb er: "Habe die besten Kritiken dieser Läufte gedichtet. Gab Möglichkeiten des Ausdrucks in einer schlafferen Menschheit (...) Ein Quark ist es. Man möchte hier einen Laden aufmachen." Zum zweiten Mal fuhr Kerr nach drüben, da zog die Inflation gerade richtig an. Zwischen Januar und Juli 1922 verteuerte sich der Dollar von 191 auf 493 Mark, Kerr schiffte sich im Mai auf dem 20 000-Tonnen-Dampfer "Resolute" ein und landete wieder in New York: "Der Mensch fühlt ein wunderbares Erschüttertsein, wenn er nach dem Weltunglück aus dem verzwisteten, siechen Europa hier landet."

1924 überquerte Kerr den Atlantik auf der "Deutschland". Nachdem 1923 bei S. Fischer seine Reisefeuilletons "Newyork - London" erschienen waren, galt er in den Staaten so viel, dass er in Washington von Präsident Calvin Coolidge empfangen wurde, den er mit der Bemerkung erfreute: "New York ist nicht Amerika". Er machte das dann wahr, bereiste New Orleans und Phoenix, sah den Grand Canyon, Los Angeles, San Francisco, den Yosemite- und den Yellowstone-Park, Portland, Chicago, die Niagara-Fälle und Boston.

Diese Reise hat er in dem Buch "Yankee Land" niedergeschrieben, das im Jahr darauf erschien, und das der Aufbau Verlag diesen September zum ersten Mal seit 1925 wieder herausbringt. In seinem Nachlass haben sich Postkarten gefunden, die er nach Hause schrieb. In weit ausschwingenden Schriftzügen richtet er sich an Richard Mann in Frankenthal, Pfalz: "Herzlichen Gruß aus einer harmlosen, aber herrlich gelegenen Ortschaft. Ihr Kerr", Ortsangabe "Salt Lake City", das Bild zeigt den Golden Gate Park in San Francisco. Dem Historiker Hermann Wendel schreibt Kerr mit einem Bild des größten Mormonen-Tempels der USA: "Lieber, mit einem Gefühl des Danks (und einer Briefschuld) ging ich auf diesen Ausflug. Im Juli bin ich zurück - hoffentlich sieht man sich dann mal. Alles, was hier ist, würden Sie sehr genießen. Es ist ein menschenwürdiges Leben, im Weltsommer. Herzlich, Ihr Kerr".

Er sollte Amerika danach nicht wiedersehen. Als Kerr, Inbegriff eines jüdischen Intellektuellen, sich, seine zwei Kinder und seine Frau Julia 1933 über Prag und Paris nach London gerettet hatte, hoffte er lange auf Aufträge aus den Staaten. Sein Vermögen war von den Nazis beschlagnahmt worden, und wie er sich mit Bittbriefen im Exil über Wasser halten musste, ist kaum mit dem Begriff "menschenwürdig" zu beschreiben. Als ihn schließlich Kurt Pinthus einlud, der an der New School in New York eine Theaterschule gründen wollte, war es zu spät. Es war Krieg, man konnte nicht mehr reisen. Kerr hat den Krieg nur um drei Jahre überlebt. Er starb 1948 auf einer Vortragsreise in Hamburg. Seine Hoffnung auf Amerika, dessen "Naturkraft plus Kraftnatur", ist bis heute mitreißend.

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SZ vom 24.08.2019
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