Süddeutsche Zeitung

Großformat:"Ich habe keinen Ort"

Was ist schon in Kassel? Dazu hat Jonas Mekas viel zu erzählen. Nach dem Krieg saß der 1922 in Litauen geborene Autor und Experimentalfilmer als "Displaced Person" dort fest.

Von Catrin Lorch

Der Gegensatz, der in diesem Sommer wieder bemüht wird, ist der zwischen Kassel und der Documenta. Dass die bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst alle fünf Jahre ausgerechnet in der hessischen Provinz stattfindet, wird gerne als Widerspruch gesehen. Deshalb erscheint es auch nachvollziehbar, dass Adam Szymczyk, der künstlerische Leiter der Documenta 14, die am kommenden Wochenende beginnt, einen zweiten Spielort in Athen unterhält. Im Gegensatz zur griechischen Hauptstadt, die gezeichnet ist von der europäischen Schuldenkrise, Flüchtlingen und wirtschaftlichem Kollaps, erscheint Kassel als grünes, hügeliges deutsches Diesseits. Doch wenn dort am kommenden Samstag die Documenta eröffnet wird, werden Fotos im Zentrum der Schau hängen, die von einem anderen Kassel erzählen.

Der 1922 in Litauen geborene Jonas Mekas, einer der ältesten Künstler, die je zu der Ausstellung eingeladen wurden, hat sie nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen. Er war Zwangsarbeiter in Elmshorn gewesen, hatte die Versklavung durch das NS-Regime und den Krieg überlebt und saß nun ausgerechnet in Deutschland fest, als "Displaced Person". Seine Aufnahmen zeigen den Alltag derer, die nach Weltkrieg und Holocaust wie Gestrandete zurückblieben, während sich das zerstörte Europa in veränderten Grenzen und neuen Machtblöcken einrichtete. "Ich habe keinen Ort", schrieb Jonas Mekas damals in sein Tagebuch. Ein Foto, das in dieser Zeit entstand, zeigt ihn gemeinsam mit seinem Bruder Adolfas, der sich mit einer Heidegger-Ausgabe in der Hand fotografieren lässt. Die Katastrophe hatte ihnen ihre Jugend geraubt, die Wartezeit auf einen Ort, auf ein Ziel dauerte dann noch einmal Jahre. Sie endete erst 1949, mit ihrer Ausreise nach New York, wo Jonas Mekas als Autor und Experimentalfilmer zu einer Schlüsselfigur der Avantgarde wurde.

Jonas Mekas' Tagebücher erscheinen unter dem Titel "Ich hatte keinen Ort" in diesem Sommer erstmals auf Deutsch. Sie dokumentieren ein Kassel, das die Deutschen nicht kennen, von dessen Existenz sie womöglich nichts wussten. Für das Großformat hat Jonas Mekas das erste Blatt seiner Eintragungen vom 26. November 1948 ausgewählt. Die Ereignisse dieses Tages (die hier in deutscher Übersetzung zitiert werden) sind sprechend: nicht allein der verzweifelte Alltag, Hunger und Not; sondern auch die Entschlossenheit der jungen Männer, die dort festsitzen. Nicht ohne Ironie hat Mekas neben der Tagebuchseite auch ein Zeugnis der "International Refugee Organization" zum Abdruck ausgewählt, in dem er als "2nd class worker" eingestuft wird, als nicht allzu leistungsfähig. Das Dokument und die Aufzeichnungen von jenem 26. November erzählen zusammen aber auch, warum einer Künstler wird. Ohne Studio, ohne Akademie. Einfach weil er weiß, dass er einer ist; weil er, unter allen Umständen, darauf besteht. Catrin Lorch

26. November 1948

Bekam 100 DM vom Lagerbüro, borgte 50 DM von Frau Poškus. Wir sind entschlossen, Idilēs zu veröffentlichen. Leo hat die Illustrationen fertiggestellt. Eine Scheibe Brot mit etwas Sauerkraut, darüber noch eine dünne Scheibe Brot - eine fantastische Mahlzeit. Wir spülen das Brot mit Tee runter. Es ist sehr gut. Kann allen arbeitslosen Dichtern empfohlen werden. Noch ein Rezept: ein Stück Brot mit einer Scheibe Zwiebel darauf, bestreut mit Salz. Ich bin beschämt, wie viel Raum ich dem, was wir essen, in meinen Tagebüchern gebe. Dem Magen. Ich weiß, etliche Leser werden mir das übel nehmen. Aber das ist die Wirklichkeit unseres Alltags, dieser Tage. Du versuchst, dich an den Geist zu halten, aber der Magen gewinnt. Die Unregel mäßigkeit, das Elend von Essen, das wir bekommen, lässt uns unserer Mägen ständig bewusst sein. Gerade, da ich das aufschreibe, bettelt ein dünner, vollkommenen ausgemergelter Deutscher an unserer Tür um Brot: "Leider", sagt Adolfas; "haben wir keins." Wir haben gerade mit Leo das letzte Stück aufgegessen. Wir waren erstaunt, wie gut dieses letzte Stück war... Der Deutsche ist verärgert, glaubt uns nicht, geht. Leo sitzt inmitten von Büchern, Ausschnitten, zerreißt wie verrückt Zeitungen; er bereitet sich für den Vortrag morgen vor. Das Thema des Vortrags lautet: Was sollten wir tun, um die Menschheit und den Planeten zu retten. Vladas lacht. Er sagt, es bringt nichts, mit diesen Leuten hier über Dinge zu reden, die sie nicht verstehen. Er denkt, Leo will es aus irgendeinem hohlen Ehrgeiz heraus machen. Er versteht nicht, warum Leo mit seinem apokalyptischem Vortrag vorankommen will. Leo sagt, er muss es tun. Tut er es nicht, zerreißt es sein Inneres in Stücke. Gerade versucht er verzweifelt, Vladas all das zu erklären. Er spricht schnell, erregt und in Sturzbächen. Vladas hört zu, murmelt und schüttelt den Kopf. Eine Mitarbeiterin des zentralen Büros der Internationalen Flüchtlingsorganisation kam zu uns. Sie sagte, sie weiß von einem Bürojob für die Winterzeit, vielleicht will ich ja einen. Ich könnte etwas Geld verdienen, für Essen und Kleidung, es wäre leichter zu leben. Ich sagte: Danke, ich hasse Büros. Ich lehne Büroarbeit grundsätzlich ab, ich lehne sie ab. Also, sagte sie, dann wollen Sie vielleicht emigrieren. Ich möchte gern nach Marokko gehen, sagte ich. Eines Tages würde ich gern nach Marokko gehen. Und sie sagte: Das ist nicht ernst gemeint. Sie denken ganz planlos. Es ist notwendig, einen Plan zu haben. Ich habe einen Plan, sagte ich, ich bin Dichter, meine Pläne sind schwierig zu erklären. Die Frau (Norwegerin) sah mich sonderbar an, sehr sonderbar. Für eine lange Zeit stand sie starr da. Dann verabschiedete sie sich und ging.

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SZ vom 03.06.2017
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