Eine ganz gewöhnliche Ansichtskarte, sogar fast noch in Schwarz-Weiß: London, Downing Street 10, wo der Premierminister wohnt; davor zwei Bobbys. Der Lyriker Jürgen Theobaldy ist Tourist und schreibt sie an den befreundeten Schriftsteller Friedrich Christian Delius, der für den Berliner Rotbuch-Verlag arbeitet. "Die Busse sind rot, die Bobbys schwarz", fasst Theobaldy sein Bild von London zusammen, und berichtet, dass er mit Rolf Dieter Brinkmann zwei Tage durch London gestromert ist. Zuvor waren sie beide Gäste beim Cambridge Poetry Festival. Brinkmann stellte sich auf Englisch vor, erzählte, dass er aus Köln komme, "a dark industrial city with very little poetry in it every day", einer Stadt ohne viel Poesie. Er hatte Erfolg mit seiner Lesung, die Leute amüsierten sich, als er forderte, dass Poesie etwas Lebendiges sein müsse, und bedauerte, dass er noch nie von einem Gedicht gefickt worden sei, und las dann seine Gedichte, in denen es manchmal auch darum geht. Zu Hause und nicht nur in Köln hatte er es sich mit allen verdorben, hatte Kritiker und Lektoren beschimpft und dann auch noch die "Popscheiße" hinter sich gelassen, mit der Ende der Sechziger sein Ruhm plötzlich aufgeflammt war. Nach fünf Jahren Pause sollte im folgenden Monat endlich ein neuer Gedichtband erscheinen, "Westwärts 1 & 2". Brinkmann hatte ein Vorausexemplar dabei, las "Sommer" vor und "Rolltreppen im August", las "Und ich gehe in den Gedichtraum,/höre die verschiedenen Stimmen,/neu zusammengestellt zu einer/deutlicheren Welt, aber wo sind/die Fenster? Wer hat die Fenster ausgelassen?"
Theobaldy erinnert sich, dass Brinkmann aufgekratzt und gleichzeitig melancholisch war: Er war eben 35 geworden, hatte kein Geld, ernährte sich aus Konserven und wollte unbedingt ein Dichter sein. Dann überlegte er wieder, ob er nicht doch noch Lehrer werden sollte, er könnte das Studium wieder aufnehmen und dafür - es bleiben ihm noch genau drei Wochen - die Zulassungsarbeit schreiben. Doch der "Gedanke an einen anderen Job, an die morgendliche Fahrt in der Straßenbahn, grau im Gesicht, riss uns zu Lachsalven hin".
Der Dichter Brinkmann notiert alles um sich herum und empfiehlt das auch dem Freund. "Schreib auf, was du heute gesehen hast, schreib auf, was du erfahren hast, schreib alles auf." In einem melancholischen und gleichzeitig sachlichen Erinnerungsstück zehn Jahre später hat Theobaldy alles festgehalten: Wie Brinkmann fast ohne Unterbrechung schrieb, alles aufschrieb, was er sah, was ihm in den Sinn kam, alles. Wie sie in London noch in einen Pub wollten, der "Shakespeare" hieß. Wie er beim Überqueren der Westbourne Grove vor Theobaldys Augen von einem Auto erfasst wird und sofort tot ist: "Sein Gesicht sah friedlich aus, noch friedlicher als das eines Schlafenden. Die Augen waren geschlossen, und trotz der Gewalt des Aufpralls lag der Körper nicht absonderlich gekrümmt am Boden."
Nichts davon verrät diese schlichte Karte. Sie ist am 23. April 1975 geschrieben, ein, zwei Stunden, ehe Brinkmann totgefahren wird, der größte Dichter seiner Generation. Poesie, hatte er noch erklärt, sei immer das, was nicht gesagt, nicht formuliert worden ist. "Die Busse sind rot, die Bobbys schwarz." Eine Ansichtskarte aus London, nichts weiter.