Großformat:Angst durch Nähe

Stefan Kaegi von Rimini Protokoll hat einen Klon von Thomas Melle gebaut. Demnächst wird dieser eine Lesung des Schriftstellers übernehmen - und das Publikum vermutlich zum Gruseln bringen.

Von Alex Rühle

Natürlich. Künstlich. Wo ist die Grenze? Und inwieweit tragen diese ästhetischen Kategorien überhaupt? Was ist schon echt an einer Performance oder Lesung? Der einstudierte Text, die perfektionierten Bewegungen, die gespielten Gefühle? Und wer spricht überhaupt auf solch einer Lesung? Lernt man da wirklich mal die Privatperson hinter dem Werk kennen? Auf der Bühne? Gerade da wird doch ohnehin immer "alles vergrößert ins Unerträgliche, die Gesten, die Eitelkeiten, die Unsicherheiten".

So formuliert es der Autor Thomas Melle. Und so wird es sein humanoides Alter Ego ab dem 4. Oktober in den Münchner Kammerspielen ja was - sprechen? Rezitieren? Abspulen? Melles Stimme wird mit Melles Text aus Melles animatronischem Double kommen, genauer gesagt: aus mehreren Lautsprechern, die in die Brust und den Rachen dieses Klons verbaut wurden, der sich dann gestenreich (und hoffentlich überzeugend synchron) zu dem Gesagten verhalten wird.

Stefan Kaegi von Rimini Protokoll hat sich gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Evi Bauer diesen Versuch ausgedacht, der das Publikum unter anderem mit der Frage konfrontiert, was es braucht, damit man Empathie empfindet. Was wird diese Melle-Maschine bei den Zuschauern auslösen? Grusel? Mitgefühl? Befremden? Warum das eine und nicht das andere? Und Empathie mit wem überhaupt? Melle ist ja gar nicht da an dem Abend (der Glückliche - er hasst Lesungen und kann das ganze Ritual somit endlich auslagern). Außerdem befragt diese durch und durch programmierte und darum unfreie, künstliche Performancesimulation auch umgekehrt unsere vermeintliche Natürlichkeit und den sogenannten freien Willen. Wie viel davon ist antrainiert, hormongesteuert, konditioniert, kulturell bedingt?

Melle wurde für die Erstellung seines Avatars komplett vermessen, sein Äußeres genauso wie seine Muskelanatomie und sein Knochenbau. Er wurde dann mit Silikon übergossen und beim Laufen und Gestikulieren gefilmt, damit seine künstlichen Hände (Robotik: Chiscreatures) diese charakteristischen Bewegungsabläufe im richtigen Moment abrufen und reproduzieren können. 32 Servomotoren, 16 davon im Kopf, wurden so programmiert, dass sie möglichst genau Melles Körpersprache und Mimik wiedergeben. Und auch analog wurde alles dafür getan, die Mimesis perfekt zu machen. Jedes Haar, jede Augenbraue wurde einzeln unter das Silikon genäht. Die Frage wird sein, wie tief diese künstliche Figur die Zuschauer ins "Uncanny Valley", das unheimliche Tal, entführen wird. Der Titel bezeichnet in der Robotik den messbaren Effekt, dass die menschliche Akzeptanz für Roboter jäh abnimmt, wenn die Maschinen dem Menschen zu ähnlich werden. Abstoßungsgrusel durch Nähe.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: