Brexit und Pop:Sex, Drugs und Depression

Oasis

Ein Bild aus der Zeit, da Cool Britannia - hier in Form der Band Oasis Mitte der Neunzigerjahre - noch eine führende Pop-Weltmacht war.

(Foto: picture alliance/Photoshot)

Großbritannien, das Mutterland des Pop, steckt in der Krise. Nun droht der Brexit alles noch zu verschlimmern.

Von Jan Kedves

Neulich am Nebentisch in einem Berliner Hummus-Restaurant: Der englische Musiker, der in dem Restaurant als Koch arbeitet, unterhält sich mit seinem Kollegen, einem Israeli, der als Kellner jobbt. Sie reden über den Brexit. Der Musiker, Anfang 30, erzählt, warum er vor einigen Jahren nach Berlin gezogen ist. Man ahnt es: Weil er in der Stadt mit weniger kommerziellem Druck im eigenen Heimstudio arbeiten kann. Er produziert elegische Kammer-Pop-Musik, nichts, was große Erfolgsaussichten hätte. ZuHause in London könne er sich das Musikmachen nicht mehr leisten, meint er. Der Kollege fragt: "And after Brexit?" - und nach dem Brexit? Der Musiker grinst gequält.

Eine typische Situation. Zwar lässt sich kaum eruieren, wie viele britische Popmusiker genau derzeit in Berlin leben und ähnliche Gespräche führen, aber es ist davon auszugehen, dass unter den 1,3 Millionen britischen Staatsbürgern, die im europäischen Ausland leben und arbeiten, nicht eben wenige Popmusiker sind und sie der Gedanke an eine Rückkehr in ihre Heimat schreckt. Denn Großbritannien, das war einmal die Heimat des Pop. Von hier aus eroberten die Beatles, die Rolling Stones, Pink Floyd und David Bowie die Welt. Bis in die mittleren Nullerjahre konnten sich auch noch weniger bedeutende Bands, wie die Libertines, darauf verlassen, dass ihnen von der Londoner Hype-Maschine aus MTV Europe und dem Magazin i-D genügend medialer Drall verpasst werden würde, um von Plattenverkäufen einigermaßen leben zu können.

Großbritannien hat seine Rolle als Pop-Inkubator eingebüßt

Doch dann kam die digitale Krise. Seitdem sind die Gewinnmargen bei Albumverkäufen stark geschrumpft, was bedeutet, dass sich nur noch wenige etablierte Musiker leisten können, allein von Tonträgern zu leben und sich - wie die für ihren Produktions-Perfektionismus legendäre Kate Bush - jahrelang im Studio einzuschließen. Während das Pop-Album früher das Hauptprodukt war, dessen Verkauf durch Konzerte beworben wurde, ist es heute genau andersherum: Musiker verdienen ihr Geld durch konstantes Touren, und Alben sind Promotion-Werkzeuge, die den Anlass liefern, mehr Tickets zu verkaufen.

Das ist zwar kein spezifisch britisches Problem. Hinzu kommt allerdings, dass Großbritannien seine Rolle als Pop-Inkubator eingebüßt hat. Das hat ebenfalls mit dem Internet zu tun, beziehungsweise damit, dass Musik aus anderen Teilen der Welt inzwischen schneller herumgereicht wird. Früher wartete die Popwelt einmal pro Jahr gespannt auf den großen neuen Musiktrend aus England: Punk, Trip-Hop, Britpop, Jungle, Grime, es ging scheinbar immer so weiter. Die aus magenumkrempelnden Subbässen konstruierte Klubmusik Dubstep war dann aber vor zehn Jahren die vorerst letzte durchschlagende Musikinnovation aus England. Seitdem staunt die Welt via Youtube über K-Pop aus Südkorea oder über Kuduro aus Angola. Und die britischen Popstars? Amy Winehouse ist tot. Danach kam nur noch Adele. Sie war der vorläufig letzte richtig große neue englische Popstar. Hat Großbritannien als Pop-Land eine Zukunft?

Es wächst die Sorge, dass sich Konzerttouren durch Europa nicht mehr lohnen könnten

Das ist fraglich. Gerade wächst die Sorge, dass sich Konzerttouren für britische Musiker durch Europa nicht mehr lohnen könnten. Dann nämlich, wenn es zu einem harten Brexit kommt, also zu einem Brexit ohne Freihandelsabkommen. Anfallende Visa- und Zollkosten: Vor allem für kleinere Bands mit knapper Tour-Kalkulation wäre das ein Horrorszenario.

Könnten sie vielleicht stattdessen häufiger durch die USA touren, also durch den nach wie vor größten Musikmarkt? Auch das erscheint ziemlich fraglich. Dort tritt Ende Dezember eine satte Gebührenerhöhung in Kraft, beschlossen von der nationalen Einwanderungs- und Ausländerbehörde. 42 Prozent mehr müssen ausländische Schauspieler, Künstler, Sportler und Musiker bei der Einreise in Zukunft zahlen, wenn sie in den USA Geld verdienen wollen.

Die Musiker in Großbritannien sind also alarmiert. Und psychisch scheinbar schon am Boden. Gerade wurden die Ergebnisse einer neuen Studie veröffentlicht, nach der die Musiker im Land zu großen Teilen unter mentalen Problemen leiden. Die Studie wurde von der gemeinnützigen Organisation Help Musicians UK bei der University of Westminster in Auftrag gegeben. 2200 britische Musiker und Musikerinnen gaben Auskunft, 68 Prozent von ihnen sind tätig im Bereich Pop. "Kann Musik krank machen?", so lautet der Titel der Studie, und die Antwort fällt eindeutig aus: 71 Prozent gaben an, Angst- und Panikattacken zu haben, 68,5 Prozent leiden unter Depressionen.

Verdrängt durch priviligierte Privatschulpopper

Sind das die Folgen der harten ökonomischen Lage? Oder haben Popmusiker nicht ohnehin einen Schaden? Letzteres wäre die Interpretation von denjenigen, die dem Mythos vom traurigen oder gleich wahnsinnigen Genie nachhängen und die Vorstellung romantisch finden, dass Kreativität etwas mit seelischen Qualen zu tun hat. Gegen die närrische Annahme, wonach die größte Kunst aus der größten Not geboren werde, spricht leider die Tatsache, dass zuletzt aus Großbritannien eben keine besondere Pop-Innovation mehr gekommen ist, obwohl so viele Musiker ihre Lage als verzweifelt beschreiben.

Die Studie von Help Musicians UK fragt nicht nach Einkommen und familiärem Hintergrund - und das ist ihre Schwäche. Die Beobachtung, dass etwas grundlegend schiefliegt im britischen Pop, ist nämlich nicht ganz neu. Sie machte bereits vor einigen Jahren die Runde durch die britischen Medien. Damals ging es noch nicht um den Brexit, sondern (unter der Überschrift "Is Pop too posh?") um die Frage, ob Pop - in England traditionell ein Druckventil der Arbeiterklasse - von den gelangweilten Kindern wohlhabender Eltern übernommen worden sei. Die Beobachtung gründete darauf, dass fast sämtliche britischen Musiker, die es in der jüngeren Vergangenheit mit eher mäßig spannender Musik zu einigem Erfolg gebracht hatten - Mumford & Sons, Florence and the Machine - auf Privatschulen gewesen waren. Ein teures Privileg, in dessen Genuss in Großbritannien nur sieben Prozent der Schüler kommen.

Die meisten Künstler machen jetzt einmal in der Woche Sport

Man kann nun aber nicht auseinanderdividieren, ob aus ärmeren Verhältnissen stammende Musiker in Großbritannien psychisch darunter leiden, von privilegierten Privatschulpoppern verdrängt zu werden; oder ob inzwischen sogar die privilegierten Privatschulpopper, auch wenn sie ein finanzielles Polster mitbringen, nervlich schon am Ende sind. Das hätte man gekonnt, wenn die Studie von Help Musicians UK die jeweiligen ökonomischen Hintergründe mit abgefragt hätte.

So oder so ist allerdings interessant, dass 71 Prozent der Musiker angeben, das konstante Touren trage zu ihrer schlechten Verfassung maßgeblich bei. Man stellt sich Touren ja häufig sehr glamourös vor: neue Länder kennenlernen, dafür sogar bezahlt und ständig bejubelt werden. Groupies, Sex, Drogen. Aber nicht alle Musiker stehen automatisch gerne auf der Bühne. Die Studie zitiert Lauren Aquilina, eine 21-jährige Singer-Songwriterin aus Bristol, die einen Plattenvertrag bei der Universal-Gruppe hat und von sich sagt, am Musikmachen genieße sie vor allem das Songschreiben - also eben nicht das Live-Auftreten und ständige Herumreisen.

Tatsächlich haben sich die Tour-Bedingungen, seit Konzerte für Popmusiker zur ökonomischen Notwendigkeit geworden sind, verschärft. Es gibt kaum freie Tage, an jedem Abend muss gespielt werden - und im Sommer muss man für kleine Gage am besten auf sämtlichen Festivals gleichzeitig auftreten, auch wenn der eigene Name nur im Kleingedruckten steht. Jetlag, Schlafentzug, das konstante Up and Down zwischen Euphorie und Hotel. Die Mitglieder mittelerfolgreicher Bands teilen sich aus Kostengründen zu viert oder fünft ein Zimmer. Es gibt Hotels, die darauf spezialisiert sind: Im Michelberger Hotel in Berlin etwa, strategisch zwischen Kreuzberg und Friedrichshain gelegen, also zwischen jenen Stadtteilen mit den meisten kleineren Musikklubs, gibt es die sogenannten Band-Zimmer. In ihnen schlafen in Doppelstockbetten vier Mann für 189 Euro pro Nacht. Wie in der Jugendherberge, nur etwas netter designt. Immer noch erholsamer als auf der Autobahn im Tour-Van.

Die meisten der für die Studie befragten britischen Musiker versuchen eigenen Angaben nach, auf ihre Gesundheit zu achten. Sie treiben mindestens einmal pro Woche Sport, rauchen nicht viel, nehmen kaum Drogen. Trotzdem kommen sie nach einer Tour als emotionale Wracks nach Hause.

William Doyle war im Jahr 2014 für den Mercury Music Prize nominiert und veröffentlichte unter dem Namen East India Youth elektronische Musik bei XL Recordings, jenem Londoner Label, bei dem bis vor Kurzem auch Adele unter Vertrag stand. Beste Voraussetzungen eigentlich für eine propere Karriere. Doch er hatte die Schnauze voll. Wie der Studie zu entnehmen ist, hat er Anfang dieses Jahres - noch vor dem Brexit-Referendum und der Aussicht darauf, in Zukunft zusätzlich Visa- und Zollgebühren von seiner Gage abzuziehen - seine Musikprojekte auf Eis gelegt und ist aus London weggezogen, weil er sich das Leben dort nicht mehr leisten konnte.

Möglich, dass auch er jetzt als Koch in Berlin arbeitet.

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