Schau der Künstlerin Yayoi Kusama:Punkt, Punkt, Kosmos, Strich

Lesezeit: 5 min

Der Berliner Gropius-Bau feiert die japanische Künstlerin Yayoi Kusama mit einer Retrospektive in bisher unbekannten Dimensionen. Ist das die Ausstellung des Jahres?

Von Peter Richter

Man schaut am besten nicht nur rein in den Kasten, sondern steckt gleich den ganzen Kopf durch eins der Gucklöcher bis ins Innere. Dann gleicht die Körperhaltung zwar der eines altertümlichen Hochzeitsfotografen, aber innen ist wirklich was los: grenzenloses Gefunkel in allen Richtungen.

Mit dem Kopf da drinnen, während der Rest draußen bleibt, kommt man sich zwangsläufig vor wie der "Wanderer am Weltenrand" auf dem berühmten Holzstich aus Flammarions Astronomie-Buch "L'atmosphère" von 1888, das seitdem als Inbild der Überwindung mittelalterlicher Weltbildbeschränkungen gilt, weil da ein Pilger am Rand der Erdscheibe seinen Kopf durch das Himmelsgewölbe staunend ins Weltall schiebt. Wenn dann gleichzeitig noch jemand seinen Kopf von der anderen Seite her in diesen invertierten Kosmos hält, wird es, je nach dem wie man zur Begegnung mit fremdem Leben im All steht, interessant oder beklemmend.

Von all den schönen "Infinity Mirror Rooms", für die die japanische Künstlerin Yayoi Kusama weltweit so verehrt und geliebt wird, ist der mit dem Titel "Kusama's Peep Show Or Endless Love Show" von 1966 vielleicht der allerschönste, weil er so charmant die Mitte markiert zwischen einem handelsüblichen Kaleidoskop und den aufwendigen Totalinstallationen, in denen man wirklich vollständig in einer scheinbaren Unendlichkeit aus Licht und Reflexionen steht.

Außerdem verbinden sich hier schon im Titel fast alle Obsessionen, die für Kusamas Arbeiten prägend sind: die Grenzenlosigkeit, die Sexualität, das Schauen und das Zeigen. Peepshows als voyeuristisches "Adult Entertainment"-Angebot für Voyeure dürften inzwischen weltweit aus den meisten Stadtbildern und folglich auch Metaphernhaushalten verschwunden sein. Im Werk von Yayoi Kusama lebt die Peepshow dafür nun gewissermaßen in einer jugendfreien Variante weiter fort. Denn auch für die Art von Dingen, die bei ihr zu bestaunen sind, war es zur Entstehungszeit der Arbeit immerhin noch üblicher, zur Musik von den Doors ein paar Giftpilze zu essen.

Räume, die über und über mit Phallischem bewachsen sind, schlagen in der Gesamtanmutung um in Richtung Bällebad

Dass man ausgerechnet eine Ausstellung von Yayoi Kusama eines Tages als geradezu familienfreundliches Unterhaltungsprogramm empfehlen würde, hätte damals zwar sicher auch keiner für möglich gehalten. Aber gerade durch die Obsession mit der Unendlichkeit wird die mit dem Sex auf beeindruckende Weise fast wieder neutralisiert. Kusama hat selbst oft genug zu Protokoll gegeben, dass sie speziell Dingen, die ihr Angst machten, durch extragroße Massenhaftigkeit den Schrecken habe nehmen wollen, wodurch sich nicht zuletzt die Vielzahl an phallisch Geformtem erkläre. Räume, die über und über mit, man muss es so klar sagen, Stoffpimmeln bewachsen sind, schlagen in der Gesamtanmutung halt wieder um in Richtung Bällebad, "ohne Platz für schwarze Gedanken", wie Kusama das in einem frühen Fernsehbeitrag ausdrückte.

Das ist schon deshalb so wundervoll, weil das mit den Obsessionen bei ihr durchaus auch im medizinischen Sinn ernst zu nehmen ist. Schon 1977 hatte sie sich schließlich in eine psychiatrische Klinik bei Tokio einweisen lassen, wo die inzwischen 92 Jahre alte Künstlerin seitdem mit offenbar unermüdlicher Energie und Freude täglich weitere Liebeserklärungen an die Unendlichkeit produziert. "Ich habe mein Herz und meine Seele dem Universum dargeboten, dem Mysterium der künstlerischen Schöpfung gewidmet, achtsam gegenüber allem, was in diesem Moment hier ist. Ich lade Sie ein, innezuhalten und sich selbst davon zu überzeugen", heißt es in einer "persönlichen Botschaft von Yayoi Kusama an ihr Gropius Bau Publikum" in dem einer merkwürdigen Interpunktionssparpolitik zum Opfer gefallenen ehemaligen Martin-Gropius-Bau.

Auch an Leute, die in Spiegelkabinetten spirituell fündig werden, wird hier viel gedacht

Dafür hat die traditionsreiche Berliner Ausstellungshalle an anderer Stelle nicht gegeizt: Schon das, was von Kusamas Werk in diesem Moment alles hier ist, hat etwas Universelles. Da wachsen im Lichthof gigantische Tentakelwesen bis fast unters Dach, Titel: "Ein Strauß der Liebe, den ich im Universum gesehen habe", allerdings telekompink mit schwarzen Punkten. In anderen Räumen wogen phallische Formen mit den von Kusama gewohnten roten "Polka Dots" wie Korallenriffe mit Windpocken. Gleich vier historische "Infinity Mirror Rooms" wurden rekonstruiert, neben der "Peep Show" noch drei begehbare. Es gibt Makkaroni als knirschenden Teppich und als Kleidung, außerdem Lichtorgeln, Musik und Videos von nackten Menschen, die sich gegenseitig frohgemut mit Farbe bepinseln. Auch an Leute, die in additiven Strukturen und Spiegelkabinetten spirituell fündig werden wollen, wird hier viel gedacht.

Aber es ist gar nicht mal nur die unabweisbare Spektakelqualität vieler ihrer Installationen, die diese Yayoi-Kusama-Retrospektive so spektakulär macht. In eine Mischung aus Entzücken und leichten Schwindel versetzt einen vielmehr schon der Umstand, dass hier tatsächlich Raum für Raum frühere Kusama-Ausstellungen rekonstruiert wurden. Es ist, mit anderen Worten, eine Kusama-Retrospektive in 3D, und Kusamas Kunst versteht sich selbst ja schon als mindestens dreidimensional, gerade da, wo sie mit ihren lieben Hippie-Slogans (immer irgendwas mit "Love", immer irgendwas mit "Universe") eher etwas einfältig wirkt.

So lässt sich in dieser Retrospektive im Zeitraffer eine Karriere beinahe exakt so nachvollziehen, wie sie sich entfaltet hat. Sogar die allerersten Einzelausstellungen der noch ganz jungen Kusama im ersten Gemeindezentrum ihrer Heimatstadt Matsumoto aus dem Jahr 1952 sind nachgestellt: berührend zarte Zeichnungen der Künstlerin hängen da neben halb figürlichen, halb abstrakten Gemälden, die schon bemerkenswert selbst- und stilsicher die Auseinandersetzung auch mit den internationalen Kunsttendenzen der Zeit suchen. Es ist faszinierend zuzuschauen, wie sich von Raum zu Raum, also von Ausstellung zu Ausstellung, geradezu biologisch die Themen und die Formen auseinanderentwickeln, die sich heute mit dem Namen Kusamas verbinden. Dieses Verfahren bringt nebenbei auch noch eine wohltuend kontextualisierende Ebene in ein Ausstellungsformat, das von sich aus nun einmal eher zur Apologetik neigt als zur Kritik.

Diese Kusama-Retrospektive ist dadurch sowohl Feier ihrer Protagonistin als auch eine historische Dokumentation der Zeiten, Orte und Bewegungen, die ihrer Karriere den Rahmen gaben. Der zeitgebundene Aktivismus ihrer Happenings und Installationen im Rahmen von Popkultur, Sexualrevolte und Politik der Sechziger wird so viel greifbarer. Ihre immersive Peep-Show-Box war 1966 zum Beispiel nicht einfach nur in der New Yorker Castellane Gallery aufgebaut. Es lief dazu auch Musik der Beatles, und zur Eröffnung verteilte Kusama Anstecker mit der Forderung "Love forever".

Neben Japan, wo sie herkommt und seit den Siebzigern auch wieder lebt, schien immer New York der eigentliche Ort ihrer Entfaltung gewesen zu sein. Höchst aufschlussreich, hier nun vorgeführt zu bekommen, wie sehr auch diese vermeintlich New Yorker Karriere in Wahrheit durch Ausstellungen in Europa, nicht zuletzt in der Bundesrepublik, vorankam. (Dieses Phänomen lässt sich ja auch bei anderen Stars des New Yorker Kunstbetriebs beobachten und wäre fast mal eine eigene Ausstellung wert.)

Jedenfalls hat Stephanie Rosenthal als Kuratorin da eine auf allen Ebenen bestechende Idee gehabt. Es war ein Jammer, dass dieses Unternehmen durch die Pandemie so lange herausgezögert wurde. Es ist aber ein Glück, dass es jetzt wenigstens für rund zwei Monate doch noch besichtigt werden kann. Und nicht nur die Leute, die am Ende immer zu entscheiden haben, welches die Ausstellung des Jahres gewesen sein könnte, sollten sich mal besser dafür anstellen.

Yayoi Kusama. Eine Retrospektive. Gropius-Bau, Berlin. Bis 15. August. Der Katalog kostet 38 Euro.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusFotoinstitut des Bundes
:"Wir wären bereit"

Gipfeltreffen: Thomas Demand, Annette Kelm, Thomas Struth und Wolfgang Tillmans über den Erfolg von Fotografie aus Deutschland und ihre Sorge um das geplante Fotoinstitut des Bundes.

Von Peter Richter

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: