Süddeutsche Zeitung

Märchen:Stille war ihr eigentliches Element

Eine Auswahl aus den Märchen der Brüder Grimm, von Julie Völk mit träumerischen Farben illustriert

Von Sybil Gräfin Schönfeldt

Es ist ein dickes fast quadratisches Buch mit einem goldgeprägten Leinenrücken und einem roten seidenen Leseband. Es liegt gut in der Hand, lässt sich gut aufgeschlagen in den Schoß legen, wenn man vorlesen möchte, worauf diese dreißig Märchen aus dem Schatz der insgesamt zweihundert von den Brüdern Grimm herausgegebenen nur warten.

Das erste Märchen dieser Sammlung der Kinder- und Hausmärchen ist das vom Froschkönig, und der erste Satz dieses Märchens ist der Titel dieser Sammlung, die mit Bildern von Julie Völk so ausgestattet ist, dass es den Herausgebern gefallen hätte: man schlägt meist Doppelseiten auf. Sie sind in sicherem Aquarellstrich gemalt, ohne Rand, so dass diese träumerischen Farben das Bild ins Unendliche der Märchenwunder öffnen. Völk setzt oft das Licht der Wasserfarben ein, und umreißt nur die Dinge oder Gestalten, um die es geht.

Die Bilder atmen Ruhe, wie es Herman Grimm in seinen "Erinnerungen" beschrieben hat: "Das ist das erste, was mir in die Erinnerung tritt, wenn ich meines Vaters oder Onkels gedenke: dass Stille ihr eigentliches Element war. Jacob beklagt sich selten über etwas in den Briefen an seinen Bruder, nur das erscheint ihm zuweilen unerträglich, dass er in seinen amtsfreien Stunden keine Stelle fand, wo er ungestört arbeiten konnte.

Nur das Kritzen der Feder war zu hören, oder bei Jacob manchmal ein leises Hüsteln.

... "Von Göttingen sind meine frühesten Erinnerungen. Ich weiß, wie ich als Kind in den Studierstuben meines Vaters und des ,Apapa', wie wir Kinder Jacob Grimm nannten, leise umher gegangen bin. Nur das Kritzen der Feder war zu hören, oder bei Jacob manchmal ein leises Hüsteln. Er beugte sich beim Schreiben dicht auf das Papier, an seinen Federn war die Fahne tief herunter abgeknapst, und er schrieb rasch und eifrig; mein Vater ließ die lange Gänsefeder bis zur Spitze unvermindert stehen und schrieb bedächtiger. Die Züge des einen wie des anderen waren immer in leiser Bewegung. ... Zuweilen blickten sie in die leere Luft. Manchmal standen sie auf, nahmen ein Buch heraus, schlugen es auf und blätterten darin. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass jemand es wagte, diese heilige Stille zu durchbrechen."

Niemand hätte damals ahnen können, was aus dieser gemeinsamen Arbeit geworden ist. Wie und aus wessen Erzählgut diese Geschichten entstanden sind, bewundert, überall nachgeahmt, in England von Lewis Carolls Oxforder Freunden, bald auch karikiert, verhöhnt. In der berühmten New York Public Library sicher ein Jahrhundert lang der einzige deutsche Titel. Und schließlich: ein wunderbarer Sammelgegenstand. Von Ludwig Richter über Otto Ubbelohde bis zu Binette Schroeder und Klaus Ensikat gibt es einen grafischen und internationalen Reichtum sondergleichen. Immer neue und andere Bilder aus einer Zeit, in der noch mit der Gänsefeder geschrieben wurde, mit Tinte, selbst gekocht aus dem fetten, schwarzen Ruß von der Innenseite des Rauchfangs in Küche und Stube.

Die dreißig Märchen dieser Sammlung werden "die schönsten" genannt. Das sollte die Aufforderung dazu sein, sich die Gesamtausgabe griffbereit zum Nachschlagen neben diese Ausgabe zu legen. Und es soll dazu verführen, in den sechs Gruppen, in die die Märchen eingeordnet sind, nach den eigenen Lieblingsmärchen zu suchen: von Brüderchen und Schwesterchen, von Wölfen, Geißlein und allerlei Getier, von Königstöchtern und anderen feinen Mädchen, von alten weisen Frauen und allerlei Hexen, von verzauberten Prinzen und erlösten Königssöhnen und von Teufeln, Hurleburlebutz und anderen kleinen Männlein.

Wohlbekannte sind geschickt mit eher unbekannten Märchen gemischt, aber immer geht es unumwunden um das, was sich die Zuhörer damals abends am erlöschenden Herdfeuer zur Unterhaltung und zur Belehrung gegenseitig erzählten: vom rechten Leben und Lieben, und um die Treue, die sich so wenig um die Zeit kümmert, wie die Geduld, ohne die manche Arbeiten nicht gelingen. Und dass auf die Bösewichte drastische Strafen warten, der dritte, letzte Sohn aber seine hochmütigen Brüder übertrumpft, das soll dem Leser immer wieder bestätigen: So ist es. Auch heute in unserer Welt. Und wenn wir nicht gestorben sind, so leben wir noch heute. (ab 10 Jahre)

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