Süddeutsche Zeitung

Grigory Sokolov in Salzburg:Der Mythos hat Humor

Pianolegende Grigory Sokolov spielt pro Jahr nur ein Programm, und immer in Salzburg. Bei Beethoven wird es diesmal zum Brüllen komisch.

Von Michael Stallknecht

Kann Grigory Sokolov eigentlich lächeln? Man weiß es nicht, schließlich tut er es nicht, egal wie sehr das Publikum in Salzburgs Großem Festspielhaus tobt. Es gehört zu den vielen Ritualen rund um den 72-Jährigen, für die er ebenso bekannt ist wie für sein Klavierspiel. Wie das Dunkel im Saal, der rasche Gang zum Flügel, das knappe, oberkellnerhafte Kopfnicken, ja, dieser gesamte Abend: Sokolovs jährliche Station bei den Salzburger Festspielen mit dem einen und einzigen Programm, das er pro Jahr spielt. Genau genommen weiß niemand, ob der russische Pianist überhaupt sprechen kann. Mythen geben keine Interviews.

Aber eines weiß man doch nach diesem Abend: dass Sokolov, Lächeln hin oder her, Humor hat. Man erfährt es bei Ludwig van Beethovens "Eroica-Variationen" op. 35, die eigentlich, ein Witz der Musikgeschichte, "Prometheus-Variationen" heißen müssten. Denn bevor Beethoven das variierte Thema in seiner Dritten Sinfonie, der Eroica, verwendete, ist es schon in der Ballettmusik "Die Geschöpfe des Prometheus" zu hören. Was insofern wichtig ist, als Sokolov den Beginn tatsächlich prometheisch deutet: als zweiten Schöpfungsakt.

Sokolov spielt ihn - schon bei Beethoven nur der Bass, noch nicht das Thema selbst - wie suchend, verweigert selbst dem dreifach gehämmerten B vorerst seine Gewalt, fügt vorsichtig die umspielenden Stimmen hinzu. Doch ist das Thema dann einmal geboren, kennt Sokolov kein Halten mehr: Figuren beginnen zu tanzen, Bässe poltern, Staccati und Akkordbrechungen hüpfen die Klaviatur hinab. Endgültig wüst wird es in der dreizehnten Variation, wo Sokolov die Vorschläge wie Knallerbsen ins Festspielhaus wirft.

Der 31-jährige Beethoven schreibt parodistische Musik, Musik unter Masken - nur dass sie noch nicht so grimmig ausfallen wie im späteren Schwesterstück, den Diabelli-Variationen. Und in der Tat: Sokolov breitet auch die langsame Variation nicht allzu elegisch aus, verklärt sie nicht zum vorweggenommenen Spätwerk. Sondern bettet sie ein in ein Werk, das vor allem eins ist: anarchistisch. Und, in Sokolovs Spiel, zum Brüllen komisch. Auch wenn das Publikum, in Ehrfurcht vor dem Ritual erstarrt, leider nicht lacht, höchstens lächelt.

Eine technische Brillanz ist zu hören, die nicht brillieren will

Der programmatische Schnitt danach fällt umso härter aus, konfrontiert die Jugend mit dem Alter. "Wiegenlieder meiner Schmerzen" hat Johannes Brahms selbst seine "Drei Intermezzi" op. 117 genannt, karge "Klaviersachen" eines knapp 60-Jährigen. Sokolov setzt nun auf einen spröden, fast papierenen Ton. Wie überhaupt seine Fähigkeit zur Klangkontrolle, Klangsetzung besticht - und gleichzeitig immer etwas Widerständiges behält, den inneren Sinn nie der Rundung zum Schönklang opfert. Dreimal Andante hat Brahms über seine Stücke geschrieben. Aber "gehen" tut hier nicht mehr viel. Eher ein Tasten ist es, mit dem Sokolov in subtilen harmonischen Verschiebungen gründelt, den einstimmigen Beginn des dritten Intermezzos bedächtig um weitere Töne anreichert. Als stehe keiner mehr selbstverständlich, im Überfluss zur Verfügung: Musik, die der Welt fast schon abhandengekommen ist.

Mit Robert Schumanns "Kreisleriana" op. 16 nach der Pause rundet sich das Programm. Nicht offensiv unter ein inhaltliches Motto sich stellend, sondern, wie immer bei Sokolov, von der Form her gedacht. Alle drei Werke des Abends sind keine Großformen, sondern Zyklen von in sich diversen Kleinformen, spielerische Partikel bei Beethoven, Ausdruck emotionaler Zerrissenheit bei Schumann. Sokolov packt jetzt die Virtuosenpranke aus, leistet phänomenale Fingerarbeit, technische Brillanz, die nicht brillieren will. Sondern dazu dient, noch im dichtesten Stimmgewitter Klarheit zu schaffen, Stimmführungen gegeneinander in unterschiedlichen Farben auszuleuchten. Und doch: Diese "Kreisleriana" - weder Schumanns abwechslungsreichster noch in sich schlüssigster Klavierzyklus - verlieren gegen die klaren Setzungen des ersten Teils. Sokolov arbeitet vor allem den Kontrast zwischen dem Stürmischen und dem Melancholischen heraus, zwischen dem Äußeren und dem Inneren. Aber den exzentrischen Humor lässt er sich überraschenderweise entgehen. Schon genug gelächelt bei Beethoven?

Man weiß es nicht. Dafür weiß man, was nun kommt: früher sieben, heute eher sechs Zugaben. Die ersten vier aus den Préludes op. 23 von Sergej Rachmaninow, gefolgt von Alexander Skrjabins op. 11 Nr. 4 und Alexander Silotis h-Moll-Bearbeitung von Bachs e-Moll-Präludium aus dem ersten Band des "Wohltemperierten Klaviers". Das Publikum spielt mit beim Ritual, klatscht immer lauter, ruft Bravo, als müsse es Sokolov tatsächlich noch zu Zugaben zwingen. Der geht nach jeder einmal hinaus, kommt ein zweites Mal, nickt mit dem Kopf, spielt. Spielt er dann auch nicht mehr, ist der Abend aus. Alle wissen es, und gehen nach Haus. Und wissen, ebenso wie der Rezensent, dass sie im nächsten Jahr wieder dabei sein wollen.

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