Griechenland-Krise:Der europäische Traum, tausendfach verraten

Die Bürokratie, das Personal, die Rituale - alles an Europa schien entweder fad oder undurchsichtig. Das hat sich auf dramatische Weise geändert.

Von Sonja Zekri

Europa - das war lange Zeit eine sichere Einschlafhilfe. Die Bürokratie, das Personal, die Rituale - alles war entweder fad oder undurchsichtig oder beides, aber ganz sicher nichts für große Gefühle.

Das hat sich auf dramatische Weise geändert. Viele Menschen leiden an Europa, ja, durch Europa; manche hassen es, einige wollen es abschaffen, zumindest seine Institutionen oder auch nur seine Währung. Andere zittern um seine politische Architektur, seinen humanistischen Kern, sein historisches Versprechen. Europa ist heute ein zerrissener, ein herzzerreißender Kontinent.

Für diese Ausgabe haben wir Literaten, einen Historiker und einen Dirigenten, von Barcelona bis Bukarest, gebeten, ihr Europa zu beschreiben: Brüssel, die EU-Zentrale, die es als Stadt eigentlich gar nicht gibt (siehe rechts), die vergessenen Ränder wie Slowenien, die einstigen Boom-Staaten wie Irland, Gewinner, Verlierer, Verlorene (Seiten zwei und drei). Es sind Stimmen voller Bitterkeit und manchmal verzagter Hoffnung, die sehr deutlich machen: Die griechische Krise ist nur eine und vielleicht nicht einmal die größte Bedrohung.

In wie viel günstigerem Licht, ja geradezu strahlend sieht diese Weltgegend dagegen für denjenigen aus, der fern ist oder lange fern war und es über Tausende Kilometer hinweg sozusagen in seinen idealen Umrissen erkannte. Aus dieser Perspektive zeigen sich Details, die aus der Sicht deutscher Muster-Europäer zu selbstverständlich, zu gewöhnlich sind, um sie noch zu bemerken. Aus der Ferne aber wirken sie groß und wunderbar.

Zum Beispiel krawallfreie Wahlen, die bis heute selbst Griechenland gelingen, obwohl die schweren Erschütterungen der letzten Jahre andere Länder und ihre politischen Institutionen längst aus den Fundamenten gehoben hätten. Dass Stimmen nicht gekauft - erpresst, gefälscht - werden, dass der Verlierer seine Niederlage einsieht und der Sieger den Gegner nicht ins Gefängnis wirft, ja, dass sich vielleicht alle bei der nächsten Abstimmung wiedertreffen, das klingt kinderleicht. Aber für viele Gesellschaften sind Wahlen der Nanga Parbat der politischen Auseinandersetzung: Der Weg ist verhangen, die Verluste sind hoch.

Fast überall auf der Welt protestieren Menschen irgendwann gegen irgendetwas, aber im Gegensatz zu sehr, sehr vielen Regionen liegen in Europa danach keine Toten auf dem Asphalt. Dass die Polizei eingesetzt wird, um Verbrecher zu jagen, und nicht, um Wegelagerei zu betreiben, Autobahnen für Autokraten abzusperren oder Unschuldige zu Tode zu quälen, das ist für Millionen Menschen dieser Erde schlechterdings eine märchenhafte Vorstellung. Das Gewalttabu ist das edelste Geschenk der Aufklärung.

Beginn einer europäischen Tragödie

Journalisten, die schreiben, was sie wollen, Künstler, die malen, was sie wollen - das alles sind feine, wichtige Dinge, gewiss, Eckpfeiler einer freien Gesellschaft. Aber wer je erlebt hat, wie die Abstammung aus einem Dorf, einem Clan oder einer Konfessionsgruppe das ganze Leben bestimmen kann, der weiß, dass Freiheit viel früher beginnt. Und so könnte es stundenlang weitergehen. Wie schön es ist, das Frauen und Männer sich die Hand geben. Dass Frauen Rad und Auto fahren, ohne ihren Ruf zu riskieren, und alle Rad und Auto fahren, ohne ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Banalitäten wie diese verdichten sich zum Lebensgefühl.

Aber dieser europäische Traum wird täglich tausendfach verraten, er ist Hohn für jene, die sich abgehängt und verelendet fühlen, die Europa als Vasallen der Banken und der deutschen Super-Sparer sehen. Die europäische Tragödie hat gerade erst begonnen.

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