Deutsche Literatur:Dunkles Land ohne Zauber

Missouri

Gregor Hens: Missouri. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 284 Seiten, 22 Euro.

(Foto: Aufbau-Verlag)

In Gregor Hens' Deutschland-Roman "Missouri" spiegelt sich in dem narzisstischen Ich-Erzähler sich die Mentalität einer ganzen Generation.

Von Christoph Schröder

Am Morgen nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht sucht Karl seine Freundin Stella und findet sie schließlich auf einem dem Schlafzimmerfenster vorgelagerten Flachdach. Stella hat die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, den Kopf gesenkt; ihre Haare fallen nach vorne; ihr Nacken ist entblößt. Karl tritt von hinten an sie heran. Das Gegenlicht mag ihn möglicherweise etwas blenden, und doch ist er sich sicher, dass Stella einige Zentimeter über dem Boden schwebt: "Sie hing frei in der Luft." Dann bemerkt Stella Karl, landet sanft; er reicht ihr einen Kaffeebecher mit dem deutschsprachigen Aufdruck "Atomkraft, nein danke".

Es ist einer der Schlüsselszenen von Gregor Hens' neuem Roman; eine Szene, in der sich wiederkehrende Grundmotive und die Eleganz des Erzählens verbinden: Die permanent leicht entrückte Atmosphäre, der Blick auf andere Menschen und die Frage, ob dieser Blick dem Gegenüber gerecht wird und tatsächlich Realität erzeugt oder bloß eine Illusion. Und nicht zuletzt der historische Hintergrund, der mehr ist als ein dekoratives Element. "Missouri" trägt die USA im Titel, doch es ist in Wahrheit ein Deutschlandbuch, in dem das Land im Umbruch aus einer fernen, dem Gegenwartstaumel entrückten Perspektive in den Blick genommen wird.

Karl, der Ich-Erzähler des Romans, ist 23 Jahre alt, als er im Juli 1989 auf dem Flughafen von St. Louis, Missouri, ankommt. Karl wollte, nicht zum ersten Mal, weg aus Deutschland. Bereits als Vierzehnjähriger, so erzählt er es gleich zu Beginn, hat er ein halbes Jahr im Nordwesten der USA zugebracht; auf der Flucht vor einer heillosen Jugend, der Trauer um die verstorbene Mutter und vor dem rigiden System des katholischen Internats, in dem er zu dieser Zeit lebte. In St. Louis richtet Karl sich im universitären Milieu ein, findet im Haus eines Studienberaters und seiner portugiesischen Frau einen dezenten familiären Anschluss und gibt Deutschkurse am College. In einem dieser Kurse sitzt Stella. Wenn es so etwas gibt, wie eine Liebe auf den ersten, wenn auch verschleierten Blick, dann trifft sie Karl und die sphärische, die Welt wie durch eine hauchdünne Membran betrachtende Stella. Oder ist es Karl, der die Dinge in ein unscharfes Licht taucht?

Als dann im November 1989 die Berliner Mauer fällt, weitet sich der Blickwinkel auf die Welt zwangsläufig, und es wird deutlich, dass "Missouri" keine privatistische Liebesgeschichte von einem fernen Kontinent erzählt, sondern über den Umweg eines in sich eingesponnenen, situativ geradezu narzisstisch anmutenden Bewusstseins das Porträt einer ganzen Generation entwirft. Entscheidend ist der Blick aus dem Westen: Karl ist am Niederrhein aufgewachsen. Gregor Hens selbst ist, wie auch die Schriftsteller Christoph Peters und Paul Ingendaay, Absolvent des Collegium Augustinianum in Gaesdonck. Weiter westlich geht es bis heute nicht in Deutschland, doch in der Bonner Republik markierte die rheinische Provinz erst recht die größtmögliche Ferne von der Schnittstelle des Kalten Kriegs. Hens' Protagonist kennt ein Deutschland ohne Mauer nur aus Büchern oder aus mündlichen Erzählungen der Verwandtschaft.

Dementsprechend unentschieden fällt Karls Reaktion aus, als er von der Grenzöffnung erfährt: Es ist die klassische Mischung aus Achselzucken und Abneigung, mit der sich Karl von der ihm bekannten BRD verabschiedet; von einem dunklen Land ohne Zauber, das es in seiner Jugend war; von dem Land, in dem seine Großeltern ausgebombt wurden. Ein Gebilde, das reich, frei und etwas langweilig war, "bestehend", wie Karl es pointiert formuliert, "aus wieder aufgebauten Kirchen, Joseph-Beuys-Installationen, Wahlplakaten und Rübenfeldern." Vor allem aber ein Land, von dessen Regeln sich Karl in den USA endgültig befreien wollte und das ihn nun gegen seinen Willen erneut an sich heransaugt.

Über Weihnachten 1989 fliegt Karl zu einem Kurzbesuch nach Deutschland und unternimmt mit seinen alten Freunden einen Trip in die noch real existierende DDR. Es ist kein Zufall und ganz gewiss kein literarisches Versagen, dass die Menschen, denen sie dort begegnen, merkwürdig flach und klischeehaft gezeichnet sind - sie sind ein Spiegel der nicht formulierten Indifferenz, mit denen sie von außen angeschaut werden. Schnell ist Karl zurück in den USA. So bald wird er nicht zurückkehren.

Projektionen und Trugbilder, Sehnsuchtsvorstellungen von der unendlichen Freiheit des Landes und Fehldeutungen treiben "Missouri" auf eine nicht unbedingt den Gesetzen der Plausibilität gehorchenden, aber rasanten Art und Weise voran. Karl lernt Janet, Stellas schöne, ungemein junge und undurchdringliche Mutter, eine Lyrikerin, kennen. Stellas Vater, war, die nächste Verbindung nach Deutschland, zu Studienzeiten in Petra Kelly verliebt, die in den 1960er-Jahren in den USA lebte. Karl und Stella unternehmen eine gemeinsame Tour quer durch die Vereinigten Staaten; in Colorado leben sie ein paar Tage bei Janets Zwillingsschwester und deren Lebensgefährtin. Es geht weiter, immer gen Westen, nach Las Vegas und San Francisco. Gregor Hens taucht das Geschehen in ein Licht der Ambivalenz. Das Gefühl, das eine oder mehrere Katastrophen im Begriff sind, sich aufzubauen, wächst. Karl sieht die Zeichen, doch er deutet sie falsch, eingesponnen in das Gefühl des ständigen Vorankommens und geblendet von der pittoresken Schönheit des Landes. Die Wirklichkeit ist nur das, was durch den selbstgewählten Filter dringt. Er sei eine Chimäre, sagt Janet einmal zu Karl. Und er selbst schreibt gleich im ersten Absatz, dass eine feine Firnis sich über die Ereignisse gelegt habe.

Im Jahr 2011 hat Gregor Hens mit "Nikotin" sein letztes Buch vorgelegt; einen Hybrid aus Essay und Adoleszenzerzählung. Im Kern beschreibt Hens darin die traumatische Erfahrung der Entfremdung von seinem eigenen Vater. In "Missouri" hat Hens die Erfahrung der Entfremdung ausgeweitet und als generationstypisches Symptom kenntlich gemacht. Dass sein Roman dabei von Sätzen getragen wird, die ihn schweben lassen, ist eine literarische Leistung.

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