"Gravity" im Kino:Völlig losgelöst

Kinsotarts - 'Gravity'

George Clooney in "Gravity"

(Foto: dpa)

600 Kilometer über der Erde tanzen die Menschen, unter ihnen Sandra Bullock und George Clooney, ein Ballett der Schwerelosigkeit in Alfonso Cuaróns neuem Film "Gravity". Selbst der Kollege James Cameron war fasziniert.

Von Fritz Göttler

Am Ende des Films bleibt sanfte Traurigkeit. Ein wenig Frustration auch - weil man jetzt wohl nicht mehr erfahren wird, was es mit der merkwürdigen Gestalt auf sich hat, die Matt Kowalski über den Weg gelaufen ist am Mardi Gras in New Orleans. Die Geschichte ist lost in space. Durch die Art und Weise, wie die Dinge sich entwickelten, hat Matt sie nicht fertig erzählen können.

600 Kilometer über der Erde, so ein Statement zu Beginn des Films, gibt es nichts, das den Schall leitet, keinen Luftdruck, keinen Sauerstoff. Leben im Weltall ist nicht möglich. Der Film ignoriert diese Fakten, setzt sich dazu in Widerspruch. Alles schwebt zu Beginn, leicht und schwerelos, in einer langen, ohne Schnitt gefilmten Bewegung, das Hubble Teleskop, ein Shuttle, Astronauten, die Erde, die bunt ist wie ein Globus oder der Ball spielender Kinder. Ein erregender Sonnenaufgang. Im Trailer hat es zu diesen Bildern Arvo Pärts "Spiegel im Spiegel" gegeben, jenes unfasslich lakonische Stück für Klavier und Violine, das den Anfang aller Musik zu verkörpern scheint und das die Filmemacher in aller Welt lieben, Jean-Luc Godard und Gus Van Sant, Tom Tykwer und Guy Ritchie. Ein Leben scheint in dieses Stück gefasst zu sein, das zu sich gefunden hat, in aller Gelassenheit und Ruhe.

Mit den schwerelosen Bildern von "Gravity", dem siebten Film von Alfonso Cuarón, wurden dieses Jahr die Filmfestspiele von Venedig eröffnet. Viereinhalb Jahre hat Cuarón gewartet, zusammen mit seinem Kameramann Emmanuel Lubezki - den er schon von der Filmschule in Mexico City her kennt und der für ihn die verrückten, langen, wild zirkulierenden Einstellungen in "Children of Men" gemacht hat -, bis die Technik so weit war, um seine Vision aus dem All auf die Leinwand zu bringen, mit jeder Menge Computertechnik und Postproduction, in 3D. Die Dreharbeiten waren die Hölle, strapaziös und chaotisch, völlig unberechenbar. Wie Shackleton, sagt Emmanuel Lubezki. Was dabei rauskam, ist pures Kino, ein Film ohne gesellschaftskritische Ambition und ohne ästhetischen Hyperdrive. Eine Meditation. Ein Mobile. L'art pour l'art.

Alter Weltraumhase

Matt Kowalski ist unter den Astronauten ein alter Weltraumhase, er ist auf seiner letzten Operation, man führt Reparaturen durch am Hubble Weltraumteleskop. Dr. Ryan Stone ist eine Bioingenieurin, sie ist zum ersten Mal im All, kennt viele Momente von Unsicherheit und von Staunen. Matt ist ihr Mentor, er macht ihr behutsam das Wunder dieser Situation, dieser Abgeschiedenheit klar und sitzt ganz selbstverständlich an ihrer Seite in der allerunwahrscheinlichsten Situation.

George Clooney ist Matt Kowalski, er ist so relaxed wie immer, lässt auch den ältesten Trick der Welt nicht aus - eine Schraube mit der Hand fangen, die Dr. Stone entglitten ist und langsam durch den schwerelosen Raum zieht -, und in der Leere des Alls kommt seine heiter raue Stimme besonders phantastisch zur Wirkung. Sandra Bullock ist Dr. Stone, für sie wird der Trip zu einem Mix aus Schock und Therapie.

Ein unwahrscheinlicher, ein unmöglicher Film

600 Kilometer über der Erde . . . Nach wenigen Minuten ist der Schwebetraum zu Ende, eine Warnung kommt von der Erde, Mission Control in Houston. Weltraumschrott rast auf das Teleskop und den Shuttle der Astronauten zu, gefährlich, projektilhaft, tödlich. Er zerstört das fragile Gleichgewicht, das Ballett der arbeitenden Astronauten. Sie taumeln und kreiseln, Opfer der Haltlosigkeit, des Fehlens von Oben und Unten, zwischen dem Leben, der bunten Erde, und dem Tod, dem schwarzen All. Der Kontakt mit Houston bricht völlig ab.

Matt und Ryan sind die Einzigen, die den splitternden Crash überleben, aber sie sind völlig isoliert, auf sich allein gestellt, sie müssen versuchen, sich durchzuschlagen zu den lebenserhaltenden Systemen der ISS Station. Und von dort - inzwischen ist der Weltraum nicht mehr allein amerikanisches Terrain - zu russischen und chinesischen Stationen und Kapseln. Um von dort die Rückkehr zur Erde zu bewerkstelligen.

Schwerkraft schränkt nur ein

Die Dinge zum Schweben zu bringen, das hat das Kino gern als seine Aufgabe verstanden. Aus Einzelbildern hintereinander eine imaginäre fortlaufende Bewegung zu machen, das ist schon ein erster Sieg über die Trägheit des Auges, eine Überwindung der Schwerkraft des Sehens. Das All bietet, weil es allen Lebensnotwendigkeiten des Menschen zuwider ist, auch die Möglichkeit, dass er über sich hinausgeht. Schwerkraft schränkt den Menschen ein, das Erdenleben bedeutet Entfremdung. Ohne gravity, ohne die Schwerkraft, findet der Mensch neuen Handlungsspielraum, selbst unter der Gefahr des Todes. Was er nun tut, hat seinen eigenen Rhythmus, wirkt ganz unentfremdet.

"Gravity" ist der synthetische Film par excellence, der künstlichste, der heute denkbar ist. Er erzählt von Rückzug, stufenweise, und von Rückkehr, auf die Erde, wo man die Schwerkraft zurückgewinnt und den Boden unter den Füßen - aber alles Erzählen ist in diesem Film nur Vorwand. Im Gesicht von Sandra Bullock dominieren Schrecken und Verzweiflung, ihre Körperbewegungen aber sind von kraftvoller Fluidität. James Cameron war völlig weg von Cuaróns Film, er selbst braucht für seine spektakulären Visionen - "Titanic", "Avatar" - immer noch die alten, ausgeleierten Geschichten. Dabei ist in den Star-Wars-Filmen von George Lucas der Endkampf bereits durchgespielt worden zwischen der Action und der reinen Beschaulichkeit der Weltraum-Sagas.

Der Weltraum ist kein Ort für Action, Stanley Kubrick wusste es, er hat seinen "2001" bereits angelegt wie einen delirierenden Dokumentarfilm. "Gravity" ist ein völlig unwahrscheinlicher, ein unmöglicher Film, sagt Cuarón, eine einzige Figur, wie sie im Raum schwimmt. Es sollte aussehen wie ein Imax-Dokfilm mit unglücklichem Ausgang. "Gravity" ist Kino der Zukunft - von solch einem SF-Film hat womöglich auch Antonioni immer geträumt -, er erinnert an die Zirkulation als einer natürlichen Qualität des modernen Kinos und an seine Dialektik, die, so schrieb Deleuze, nicht mehr aus der Zeit das Maß der Bewegung macht, sondern aus der Bewegung eine Perspektive der Zeit.

Gravity, USA 2013 - Regie: Alfonso Cuarón. Buch Alfonso und Jonás Cuarón. Kamera: Emmanuel Lubezki. Schnitt: Alfonso Cuarón, Mark Sanger. Musik: Steven Price. Mit: Sandra Bullock, George Clooney. Und den Stimmen von: Ed Haris, Orto Ignatiussen, Paul Sharma, Amy Warren, Basher Savage. Warner, 90 Minuten.

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