"Gravity" im Kino:Ein unwahrscheinlicher, ein unmöglicher Film

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600 Kilometer über der Erde . . . Nach wenigen Minuten ist der Schwebetraum zu Ende, eine Warnung kommt von der Erde, Mission Control in Houston. Weltraumschrott rast auf das Teleskop und den Shuttle der Astronauten zu, gefährlich, projektilhaft, tödlich. Er zerstört das fragile Gleichgewicht, das Ballett der arbeitenden Astronauten. Sie taumeln und kreiseln, Opfer der Haltlosigkeit, des Fehlens von Oben und Unten, zwischen dem Leben, der bunten Erde, und dem Tod, dem schwarzen All. Der Kontakt mit Houston bricht völlig ab.

Matt und Ryan sind die Einzigen, die den splitternden Crash überleben, aber sie sind völlig isoliert, auf sich allein gestellt, sie müssen versuchen, sich durchzuschlagen zu den lebenserhaltenden Systemen der ISS Station. Und von dort - inzwischen ist der Weltraum nicht mehr allein amerikanisches Terrain - zu russischen und chinesischen Stationen und Kapseln. Um von dort die Rückkehr zur Erde zu bewerkstelligen.

Schwerkraft schränkt nur ein

Die Dinge zum Schweben zu bringen, das hat das Kino gern als seine Aufgabe verstanden. Aus Einzelbildern hintereinander eine imaginäre fortlaufende Bewegung zu machen, das ist schon ein erster Sieg über die Trägheit des Auges, eine Überwindung der Schwerkraft des Sehens. Das All bietet, weil es allen Lebensnotwendigkeiten des Menschen zuwider ist, auch die Möglichkeit, dass er über sich hinausgeht. Schwerkraft schränkt den Menschen ein, das Erdenleben bedeutet Entfremdung. Ohne gravity, ohne die Schwerkraft, findet der Mensch neuen Handlungsspielraum, selbst unter der Gefahr des Todes. Was er nun tut, hat seinen eigenen Rhythmus, wirkt ganz unentfremdet.

"Gravity" ist der synthetische Film par excellence, der künstlichste, der heute denkbar ist. Er erzählt von Rückzug, stufenweise, und von Rückkehr, auf die Erde, wo man die Schwerkraft zurückgewinnt und den Boden unter den Füßen - aber alles Erzählen ist in diesem Film nur Vorwand. Im Gesicht von Sandra Bullock dominieren Schrecken und Verzweiflung, ihre Körperbewegungen aber sind von kraftvoller Fluidität. James Cameron war völlig weg von Cuaróns Film, er selbst braucht für seine spektakulären Visionen - "Titanic", "Avatar" - immer noch die alten, ausgeleierten Geschichten. Dabei ist in den Star-Wars-Filmen von George Lucas der Endkampf bereits durchgespielt worden zwischen der Action und der reinen Beschaulichkeit der Weltraum-Sagas.

Der Weltraum ist kein Ort für Action, Stanley Kubrick wusste es, er hat seinen "2001" bereits angelegt wie einen delirierenden Dokumentarfilm. "Gravity" ist ein völlig unwahrscheinlicher, ein unmöglicher Film, sagt Cuarón, eine einzige Figur, wie sie im Raum schwimmt. Es sollte aussehen wie ein Imax-Dokfilm mit unglücklichem Ausgang. "Gravity" ist Kino der Zukunft - von solch einem SF-Film hat womöglich auch Antonioni immer geträumt -, er erinnert an die Zirkulation als einer natürlichen Qualität des modernen Kinos und an seine Dialektik, die, so schrieb Deleuze, nicht mehr aus der Zeit das Maß der Bewegung macht, sondern aus der Bewegung eine Perspektive der Zeit.

Gravity, USA 2013 - Regie: Alfonso Cuarón. Buch Alfonso und Jonás Cuarón. Kamera: Emmanuel Lubezki. Schnitt: Alfonso Cuarón, Mark Sanger. Musik: Steven Price. Mit: Sandra Bullock, George Clooney. Und den Stimmen von: Ed Haris, Orto Ignatiussen, Paul Sharma, Amy Warren, Basher Savage. Warner, 90 Minuten.

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