Süddeutsche Zeitung

Grass in Frankreich:Brennende Grenzen

Günter Grass und seine Zeit in Paris - die Entdeckung der europäischen Sensibilität.

Von JOSEPH HANIMANN

Die Pariser Jahre von Günter Grass spielten in einer Zeit, in der das Aufregende aus dem Westen kam und die historischen Altlasten daheim unter Langeweile verrauchten. Die Stadt, in welcher Grass in den späteren Fünfzigerjahren lebte und weite Teile seines Manuskripts für "Die Blechtrommel" schrieb, hat sich immer etwas stiefmütterlich daran erinnert.

Auch nach seinem Nobelpreis wurde er höflich empfangen, aber nie wirklich gefeiert. Dass Frankreich im Werk dieses Schriftstellers eher am Rande vorkommt, hat kaum jemand wirklich gewundert. Die tiefe Kenntnis französischer Kultur, die stellenweise aus Büchern wie dem "Tagebuch einer Schnecke" spricht, vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen, dass Günter Grass in Paris als aufmerksamer Zaungast lebte, dass seine Empfindsamkeit und sein Herz sich aber weit in den Osten Europas neigten, wo die Konturen für französische Augen unscharf werden.

Das bedeutet allerdings nicht Gleichgültigkeit. "Ein Mann von Herz und Schnauze", schrieb Pierre Deshusses in Le Monde und spielte damit auf die eher unfranzösische Kunst an, besondere Sensibilität unter lauten Tönen zu verstecken. Das Sperrige, Ungefügige, Widerspenstige, das in der deutschen Wahrnehmung von Grass erst nach den Enthüllungen über dessen Vergangenheit richtig zum Vorschein kam, wurde von den Aufmerksamsten unter den Franzosen schon früh bemerkt.

Michel Tournier, der Autor, dessen Status in seinem Land am ehesten mit dem von Grass in Deutschland vergleichbar wäre, sah diesen als "einsame, schrille, barbarische Figur in der sonst so anständigen deutschen Kulturlandschaft".

Für die Schriftstellergeneration nach Tournier, die Deutschland nicht mehr nur als zweigeteiltes geschichtsloses Monument in der Windstille der Nachkriegszeit wahrnahm, gehörte Grass zu den Klassikern der Moderne. Dass "Die Blechtrommel" vom frankophilen Volker Schlöndorff mit teilweise französischen Geldern verfilmt wurde, gilt als zusätzlicher Beweis, wie weit das Europäische durchscheint - so sehr auch Sprache und Bilder das Deutsche bewahren mögen.

Grass' Engagement als Intellektueller und politischer Parteigänger der Sozialdemokraten dürfte aus französischer Sicht auf großes Verständnis gestoßen sein. Die Weise aber, wie es in der alten Bundesrepublik sich vollzog in einer Art gespanntem Dauervertrauen zwischen Schriftsteller und Spitzenpolitikern, schuf eher Distanz zur französischen Tradition, die den Intellektuellen entweder direkt ins Vorzimmer der Macht oder hinaus auf die Straße setzt.

Noch weiter auseinander ging die Wahrnehmung bei den Enthüllungen über die Vergangenheit in der Hitlerjugend. Wo aus deutscher Sicht die moralische Integrität in die politische Ruinenlandschaft stürzte, neigten viele französische Beobachter dazu, die deutsche Geschichte im Sinne von Michel Tournier noch einmal mythologisch aufgehen zu sehen. Als eine Mischung aus erfrischender Rücksichtslosigkeit und schierer Provokation schließlich erschienen Grass' Ausfälle gegen Israel.

Das Werk der prominentesten Nachkriegsautoren Grass und Böll bleibt in Frankreich ein Sonderfall distanzierter Klassik. Zwar liegen die Romane von Grass ziemlich vollständig vor in vorzüglicher Übersetzung, zunächst von Jean Amsler, später von Claude Porcell. Es bleibt aber ein Werk, mit dem französische Leser sich nicht identifizieren, sondern in dem sie eher das Eigene im gebrochenen Spiegelbild des Fremden suchen. Frankreich, das Land der elegant formulierten Erklärungen beim Ableben großer Figuren, blieb in den ersten Stunden nach dem Tod des deutschen Nobelpreisträgers, abgesehen von den vorbereiteten Nachrufen, seltsam stumm. Günter Grass, der heute in allen französischen Schulbibliotheken steht, wird von den einen gelesen als Erscheinung eines Deutschland, das es nicht mehr gibt, und von den anderen als Figur eines grenzüberschreitenden Kontinents zwischen Paris und Danzig, dessen Grenzen bei jedem Schritt weiterhin unter den Füßen brennen.

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SZ vom 14.04.2015
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