So gehen die Buchstaben im Bild spazieren, stehen dann und wann, wie eine Gruppe Grundschüler brav in einer Reihe, um bei Gelegenheit auszubüxen. Gerne spielen sie Verstecken, hüpfen aus ihrem Wortgrüppchen heraus und ducken sich zwischen den Linien der Zeichnung. Wer da den Sinn nicht finden will, der wendet sich an die zusätzlich beigelegten, brav gedruckten Gedichte von Lydia Daher. "Kleine Satelliten" heißt das Buch, das sie zusammen mit dem amerikanischen Zeichner Warren Craghead III geschaffen hat.
Lydia Daher lebt mittlerweile in Berlin, dichtet und hat drei Alben veröffentlicht - das letzte aufgenommen mit algerischen Musikern in deren Heimat. Sie ist die ideale Künstlerin für Kooperationen, weil sie die Art der Kommunikation im Wesen mag. Ihren Zeichner Craghead hat sie bis heute nicht getroffen. Vor einer Weile fiel er ihr auf, als sie sich mit Comics beschäftigte. Sie bestellte sich Bücher von ihm, nahm Kontakt auf. Ursprünglich waren Arbeiten für eine Ausstellung geplant, dass es ein ganzes Buch geworden ist, dafür braucht es einen verwegenen Verlag wie Maro, der Mut hat, etwas zu veröffentlichen, was weder Lyrik noch Comic ist. "Ein Bild versteckt sich in Falten aus Stoff. Ein Bild lebt in Halbtönen. Ein Bild ist unentschieden", heißt es in "Komm näher". Lydia Daher hat die Texte für die Zusammenarbeit geschrieben, hat also schon die Übersetzung ins Bild angedacht. Zusätzlich bekam Craghead noch zwei Übertragungen ins Englische, eine von einem Profi, die andere von einem literaturbegeisterten Hobby-Übersetzer. Der Zugang zu diesem Material blieb ganz ihm selbst überlassen.
Auseinandernehmen hätte er es können und neu zusammenzeichnen. Aber Craghead schaffte sich Zeile für Zeile durch den Text. Den ersten, "Tendenzen", setzt er in Räume. Dicke Bleistiftstriche schaffen Zimmerecken, Hausdächer. Feine Schraffuren wirken wie ephemere Existenzen, die sich einst durch Raum und Zeit hindurchbewegt haben mögen. Das Bild ist nicht Illustration, es ist Assoziation, so zart und andeutungsreich, wie eben Graphit auf Papier. Der Titeltrack "Kleine Satelliten" spielt am Ufer - möglicherweise -, baut mit Strichästen ein Objekt, in dem der Voodoo-Zauber wohnen könnte, und umreißt plötzlich die Figur eines Fährmanns, dessen Paddel ein Gewehrlauf sein könnte. "Und vielleicht überging ich dich in jenem Traum," bröseln beunruhigend die Buchstaben um diese Gestalt aus dem Unterbewusstsein.
Lydia Dahers Gedichte sind in diesem Medium etwas anderes geworden, weil sie sich auflösen dürfen. Für sie selber ist jede Seite ein Poem, das auch für sich stehen kann, losgelöst von der Makrostruktur des Textes. Craghead hat alles gezeichnet. Das deutsche Original und die Übersetzungen. Drei Versionen: mit einer Lust an der Ähnlichkeit, die niemals gleich sein kann, mal dies neu betont, mal jenes. Wenn Lydia Daher in München ihr Buch vorstellt hat sie für ihren Performanceteil eine Vinylschneidemaschine dabei. Die ritzt Samples auf Platten: eine Umdrehung, ein Loop. Auch eine Art, die eigenen Texte zu befreien.
Lydia Daher: Kleine Satelliten (Maro Verlag), Lesung, Performance und Vernissage, Montag, 14. November, 20 Uhr, Café Ruffini, Orffstr. 22-24