Graphic Novel:Nebel frisst alles auf

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Wie ein nie gedrehter Krimi der Schwarzen Serie: Hans Hillmanns meisterhafter Bilder-Roman "Fliegenpapier" neu aufgelegt.

Von Thomas von Steinaecker

Es gibt nicht viele Werke, die ihrer Zeit so weit voraus sind, dass unklar ist, mit was für einer Kunstform man es eigentlich zu tun hat. "Fliegenpapier" von Hans Hillmann ist so ein Fall. Als das Buch 1982 nach siebenjähriger Arbeit erschien, war die Comic-Szene in Deutschland nur in Ansätzen vorhanden. Und auch der Begriff der Graphic Novel, der seit den Nullerjahren für einen zaghaften Boom der Neunten Kunst sorgt, hatte noch nicht die Runde gemacht. "Fliegenpapier" aber ist eine Graphic Novel avant la lettre auf Weltniveau - und das aus dem Comic-Entwicklungsland Bundesrepublik. Kreisch!, um es mit Erika Fuchs zu sagen.

Und doch hat "Fliegenpapier" kaum etwas mit typischen Comics zu tun. Das beginnt schon beim Autor: Hans Hillmann, der lange Zeit als Professor an der Kunsthochschule in Kassel arbeitete und im vergangenen Jahr mit 88 Jahren starb, war in erster Linie berühmt für seine einzigartigen Filmplakate. Meistens in Schwarz-Weiß und mit minimalen, aber äußerst effektvollen Mitteln wird da das Thema des jeweiligen Films zu einem neuen, überraschenden Motiv verdichtet; ja, Hillmann schuf mit seinen über 150 Plakaten vor allem in den 1960ern eigenständige Kunstwerke, die weltweit Beachtung erfuhren.

"Na schön, ich werd mal nachsehen. Warten Sie hier." - Ich komme mit bis zur dritten Etage und warte dort hinter einer Ecke." - "Na schön." (Foto: Hans Hillmann/Avant-Verlag)

Ob die zu einer beinahe kubistischen Figur zusammengesetzten Streifen unterschiedlicher Körperteile bei Kurosawas "Rashomon" oder die Großaufnahme der sich dem Betrachter aus dem Dunkel entgegenstreckenden Fingerspitzen bei Bressons "Pickpocket" - Hillmanns Werke sind Ikonen geworden und erinnern zugleich an die längst vergangene Hochzeit des Programmkinos, als Filmplakate noch einen anderen Stellenwert hatten.

"Fliegenpapier" wiederum wirkt auf den ersten Blick wie ein nie gedrehter Krimi der Schwarzen Serie: Es ist die Adaption einer frühen Geschichte Dashiell Hammetts von 1929, eines der ersten Texte des Hardboiled-Genres, in dem im Asphaltdschungel der US-amerikanischen Großstädte die Grenzen von Gut und Böse verschwimmen. Was Hillmann an der Erzählung denn auch nach eigenen Aussagen gereizt hat, war gerade, dass es "keine 'Supermänner' als Detektive und auf der Seite der Kriminellen nichts Überragendes" gab, das "Schäbige".

Und schäbig, sogar ein bisschen schmuddelig geht es auch in "Fliegenpapier" zu. Der namenlose Ich-Erzähler soll sich in New York auf die Suche nach der jungen Sue machen, einem Mädchen aus gutem Hause, das mit einem Kleinganoven durchgebrannt ist. Als der Detektiv sie schließlich in San Francisco aufspürt, kommt er zu spät. Die schöne Sue liegt tot im Bett, vergiftet mit Arsen, das ihr auf Fliegenpapier zwischen Buchseiten verabreicht wurde. War es ihr brutaler Lover mit dem schönen Namen Babe McCloor? Oder vielleicht ihr anderer Liebhaber Joe, der aber mittlerweile auch mit einer Kugel im Kopf in einem stickigen Hotelzimmer mit Meeresblick liegt?

Hans Hillmann: Fliegenpapier. Graphic Novel. Avant-Verlag, Berlin 2015. 256 Seiten, 29,95 Euro. (Foto: verlag)

Hillmanns Version dieser kleinen, ziemlich komplizierten und letztlich eigentlich unspektakulären Geschichte mutet monumental an: über 250 großformatige Seiten, die mit zumeist ganzseitigen, manchmal sogar doppelseitigen Bildern gefüllt sind. Minutiös mit Bleistift vorgezeichnet, wurden sie anschließend aquarelliert, wobei Hillmann dem Schwarz Rot beimischte, was eine Vielzahl von Grauabstufungen ermöglicht - der perfekte Farbton für einen zutiefst melancholischen Text, in dem jeder verdächtig ist und keiner ein Held. Um die sprechblasenlosen Bilder voll zur Entfaltung kommen zu lassen, sind die entsprechenden Passagen aus Hammetts stark gekürztem Text darunter gesetzt.

Der Text wird zum Voice-over der Zeichnungen, die oft etwas ganz anderes zeigen

Hillmann illustriert nur sehr selten; vielmehr stellt sich tatsächlich sofort ein filmisches Gefühl ein. Der Text wird zum Voice-over der sanft verschwommenen Zeichnungen, die oft etwas ganz anderes zeigen, als wovon gerade die Rede ist. Hillmann, der im Zuge des Projekts mehrmals an den Schauplätzen der Erzählung recherchierte, gelingt es dabei wunderbar, die schwüle Atmosphäre San Franciscos einzufangen, wo der flimmernde Asphaltboden der steilen Hügel wenig Halt verspricht und sich so manches prunkvolle Art-Déco-Gebäude mit seinen Feuerleitern als längst verfallen herausstellt. Abgesehen von klassischen filmischen Techniken wie Zoom, Nahaufnahme und Supertotale wimmelt "Fliegenpapier" von visuellen Zitaten, von Edward Hoppers leeren Hotelzimmern bis zu klassischen Film-noir-Einstellungen mit ihren extremen untersichtigen oder schrägen Perspektiven. Am eindrucksvollsten ist dieser erstaunliche Bilder-Roman aber dort, wo Hillmann sich nicht ganz an Hammett hält und etwas macht, was eigentlich seiner Methode des kunstvollen Einzelbildes widerspricht: bei den Actionsequenzen. Wie in Zeitlupe läuft da zum Beispiel das erbarmungslose Zerstörungswerk einer Schießerei in einem New Yorker Nachtklub ab; oder, am Höhepunkt des Buches, eine Verfolgungsjagd durch das Gewimmel von San Franciscos Chinatown, wo die Gefahr hinter Strommasten, in den spiegelnden Fensterscheiben oder, im unvergesslichen Schlussbild des dritten Kapitels, im alles auffressenden Nebel lauert.

Als Hans Hillmanns "Fliegenpapier" 1982 erschien, erfuhr es nicht die Beachtung, die es verdient hätte. Nach einer Broschurausgabe Mitte der Nullerjahre war es sogar vergriffen. Nun, da es wieder aufgelegt wird und sich die Zeiten für den Comic auch hierzulande zum Besseren gewendet haben, sollte es als das wahrgenommen werden, was es ist: eines der ganz großen Meisterwerke der Neunten Kunst.

© SZ vom 14.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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