Man kann sich nicht durch das Internet bewegen, ohne früher oder später mit jenem Raunen Kontakt zu bekommen, das es durchströmt wie ein unterirdischer Fluss: Eine tiefere Wirklichkeit warte darauf, entdeckt zu werden, steht dann da etwa. Etwas, das "uns" vorenthalten wird. Von "denen". Aber zum Glück gebe es Hinweise, überall. "Folge dem weißen Kaninchen!"
Elon Musk setzte kürzlich diesen Satz als Tweet ab - die Formulierung ist ein Code der internationalen Bewegung QAnon. Es ist kaum zu fassen: Der Chef der wichtigsten Diskursplattform heizt einen sich weltweit ausbreitenden modernen Mythos an, dem zufolge korrupte Eliten das Blut versklavter Kinder trinken, um jung zu bleiben. Das, so schildert es die französische Journalistin Doan Bui, Chefreporterin beim Nachrichtenmagazin L'Obs, in ihrer Graphic Novel "Glauben Sie an die Wahrheit?", sei die Ausgangslage: Die Welt ist verrückt geworden. "Wir sind hier alle verrückt. Ich bin es. Und du auch."
Bui kapert die aus "Alice im Wunderland" stammende Metapher der Verschwörungsgläubigen. So wie Alice nach ihrem Sturz ins Kaninchenloch fühle sie sich bei ihrer Arbeit, wenn sie zu einer Konferenz der "Flacherdler" reist und sich Vorträge darüber anhört, dass hinter der vermeintlichen Mauer aus Eis am Weltrand weitere, bislang unentdeckte Kontinente warteten. Die Schwierigkeit - als Journalistin, aber auch als Mensch - besteht in einem Spagat: solche Leute ernst zu nehmen, auch wenn man ihre Vorstellungen nicht ernst nehmen kann.
Die großen Werke des Comic-Journalismus zeigen meist Schreckliches
Der Cartoon-Stil der Graphic Novel läuft diesem Bemühen entgegen. Cartoons haben eine zwangsläufige Tendenz zur Karikatur. Das gilt für Menschen, deren Individualität auf wenige Merkmale zusammenschrumpft, auf Köpfe mit "Make America Great Again"-Mützen etwa, während vorne Trump gegen die "Mainstreammedien" hetzt; noch mehr aber gilt es, wenn die Illustratorin Leslie Plée die Vorstellungen der Verschwörungsgläubigen ins Bild setzt. Ein Panel, das zeigen soll, wie der Youtube-Empfehlungsalgorithmus funktioniert, enthält als Vorschläge weiterer Videos solche mit den Titeln "Die Erde ist ein Dreieck", "Die Erde ist ein Crêpe" und "Die Erde = Ossobuco" samt passender Illustration. Flachwitze über Flacherdler, na herzlichen Glückwünsch.
Plées nüchterner Zeichenstil verhindert Schlimmeres. Er verhindert aber auch das Aufkommen von Empathie für die ulkigen Männchen mit ihren Spinnereien. Wo der Cartoon-Stil seine Stärken ausspielt, lässt sich andernorts besichtigen: Im Klassiker "Maus" etwa erzählt Art Spiegelman vom Holocaust, indem er ihn als eine Vernichtungskampagne der Katzen an den Mäusen zeichnet. Der Schrecken, der nicht gezeigt werden kann und aus Respekt vor den Toten auch nicht gezeigt werden soll, taucht in wenigen, strengen Strichen auf den Seiten andeutungsweise auf, Stacheldraht und Berge toter Menschenleiber mit Mauseköpfen - so als trage die Darstellung dieser Menschheitskatastrophe eine Maske, eine Totenmaske, die stets daran erinnert, dass die Wirklichkeit dahinter nur eisige Finsternis ist. Auch die großen Werke des Comic-Journalismus, etwa die von Joe Sacco über die Kriege in Palästina und Bosnien, zeigen Schreckliches, verfremden es aber zugleich, um Wahrnehmungsschemata zu durchbrechen.
Bui selbst hat vor ihrer Reportagereise durch die Welten der Verschwörungsgläubigen eine Graphic Novel über ein solches Thema geschrieben. Es ging um den Gerichtsprozess gegen den Bruder von Mohamed Merah, der 2012 in Toulouse sieben Menschen tötete, darunter drei Kinder, bevor eine Sondereinheit der Polizei ihn in seiner Wohnung erschoss. Bui berichtete vom Prozess und ließ Leslie Plée später die Geister der Getöteten in den Gerichtssaal hineinmalen, als schwarze Schatten auf den Zuschauerbänken. Das sorgte für emotionale Wucht und war zugleich kindgerecht.
Das Kompendium der gängigsten Verschwörungsspinnereien, das Bui aus ihren Reportagereisen zu den Kreationisten, Querdenkern, Fake-News-Fabriken, Klimawandelskeptikern und vielen anderen gezimmert hat, schließt sie mit praktischen Tipps zur Beurteilung der Seriosität von Nachrichten ab. Es schadet sicher nicht zu wissen, was eine Google-Bilder-Rückwärtssuche ist. Noch wichtiger aber wären Hinweise gewesen, wie sie etwa Pia Lamberty und Katharina Nocun in ihrem Buch "Fake Facts" geben. Die Autorinnen schildern dort, wie man an Verschwörungsgläubige emotional herankommt und die zugrundeliegenden psychischen Probleme anspricht, deretwegen sie sich in derlei paranoide Gebilde flüchten. Eines, schreiben sie, sei dabei besonders wichtig: Man solle sich keinesfalls über diese Menschen lustig machen.