Graphic Novel "3 Sekunden":Zoomfahrt in tiefere Dimensionen

Mit "3 Sekunden" lotet Zeichner Marc-Antoine Mathieu die formalen Möglichkeiten seines Genres aus. Hier zeigt sich, dass der Comic als Bildgeschichte eher dem Film als der Literatur nahekommt. Ein Experiment, das sich über weite Strecken als großartig erweist.

Thomas von Steinaecker

Soviel ist klar: Gleich wird hier ein Mord geschehen. Ein Mann hat in einem Zimmer gerade auf seinem Handy eine Nachricht erhalten. Ein anderer bedroht ihn im selben Moment von hinten mit der Pistole. Die Frau, die daneben steht, lässt vor Überraschung ihre Puderdose fallen. Der Comic "3 Sekunden" beginnt mit der prototypischen Ausgangssituation eines Krimis. Berechtigterweise erwartet man also im Folgenden Antworten auf die Fragen nach dem Motiv und der Identität aller Beteiligten. Soweit, so klassisch.

Bild aus der Graphic Novel "3 Sekunden"

Ein Zoom-Spiel: Raffinierte Spiegelungen katapultieren die Erzählung von Marc-Antoine Mathieu aus einem engen Zimmer hinaus auf die Straße, in ein Fußballstadion und schließlich hinauf in den Weltraum.

(Foto: Marc-Antoine Mathieu / Reprodukt)

Der Haken an der Sache ist: Der Leser wird auf den knapp achtzig Seiten des Buches nur über die titelgebenden drei Sekunden aufgeklärt werden; und, um die Sache noch etwas zu verkomplizieren, geschieht dies mittels eines einzigen langen Zooms, bestehend aus jeweils neun Bildern pro Seite: auf die Pupille des vermeintlichen Opfers zu, in dem sich sein Handy spiegelt, in dem wiederum der Spiegel des Zimmers zu sehen ist, der gegenüber einer spiegelnden Vase steht und so weiter.

Kafkaesk und zugleich absurd-humorvoll

Für so ein "Zoom-Spiel", wie der Untertitel des Buches lautet, braucht es einen Autor (und Leser), der Spaß an formalen Experimenten hat, einen, der über ein gerüttelt Maß an Wahnsinn verfügt. Einen wie den Franzosen Marc-Antoine Mathieu also, der bislang vor allem mit seinen fünf Bänden über einen Angestellten im "Ministerium für Humor" Bekanntheit erlangt hat.

Bedrückend kafkaesk und zugleich absurd-humorvoll war das, was dieser Julius Corentin Acquefacques, der "Gefangene der Träume", in surrealen Episoden erlebte, die in ihrer ständigen Irritation der Perspektiven an M.C. Eschers Bilder erinnerten und auch schon mal in für den Comic bahnbrechende 3D-Welten führen konnten. Doch Mathieu beließ es nie bei bloßen formalen Spielereien; stets haben seine Innovationen auch einen gemäßigt philosophischen Anspruch, der ihn die Frage nach den Prämissen unseres Lebens stellen lässt; so wenn in seinem vorletzten Buch "Gott höchstselbst" Gott sich heute als alter Mann zu erkennen gibt und ihm wegen seiner Taten der Prozess gemacht wird.

Über weite Strecken großartig

Ganz so existenzialistisch geht es in "3 Sekunden" nicht zu; aber auch hier gewinnt die komprimierte Situation des Anfangs mit jeder neuen Perspektive und jeder weiteren Zoomfahrt eine tiefere Dimension, bis sie beinahe globale Ausmaße annimmt. Denn dank seiner raffinierten Spiegelungen katapultiert uns Mathieu bald schon aus dem engen Zimmer der Tat hinaus auf die Straße, in ein Fußballstadion, ein Flugzeug und schließlich sogar in den Weltraum, durch den ein Überwachungssatellit kreist. Und langsam setzt sich das kriminalistische Kaleidoskop zusammen. Es geht - soviel verraten Plakate und Artikel von wie beiläufig herumliegenden Zeitungen - um einen Skandal bei der Fifa, um gekaufte Spiele, einen geheimnisvollen Maulwurf und eine Richterin in Gefahr, die wir mit angeketteter Aktentasche in einem Flugzeug sehen.

So spannend der sukzessive Aufbau dieser großen Verschwörung ist und so ehrgeizig man als Leser wird, die verschiedenen Personenkonstellationen zu entwirren, so frustrierend ist es allerdings, wenn man auch nach mehrmaliger Lektüre das Gefühl hat, dass zwar alles irgendwie diffus miteinander zusammenhängt - dieser Fall aber letztlich nicht zu lösen ist. Was trotzdem nur bedingt stört, da von vornherein klar ist, dass es Mathieu hier in erster Linie um ein formales Experiment und die Erweiterung der Möglichkeiten des Comics geht. Und dies gelingt ihm tatsächlich über weite Strecken großartig.

Höchst eindrucksvoll etwa die Peripetie des Bandes, als wir für einige Seiten von der Spiegelung des Mondes über die Linse eines Satellits auf die Erde zurückstürzen, wo in der einen Sekunde, die in der Zwischenzeit verging, all die entscheidenden Ereignisse, die sich zuvor angedeutet hatten, stattgefunden haben: Ein Mann sackt tödlich getroffen zusammen, ein anderer fällt vom Motorrad, ein Flugzeug bricht auseinander.

Selten ist augenscheinlicher gemacht worden, dass der Comic eben nicht, wie zuletzt immer wieder behauptet, Literatur ist, sondern als Bild-Geschichte, die auch wie im vorliegenden Fall ohne Worte auskommen kann, eher mit dem Film zu tun hat. Folgerichtig hat Marc-Antoine Mathieu sein Buch gleich medial erweitert: Durch einen Code im Buch gelangt man im Internet auf eine Seite, wo man sich die Geschichte als Computeranimation anschauen kann. Die filmische Adaption, eine Art "Russian Ark" auf Speed, offenbart freilich auch die Stärken des Mediums Comic an sich. Ein Zoom, der minimalistisch in neun auf einer Seite nebeneinander abgedruckte Einzelbilder aufgelöst wird, wirkt visuell eben einfach innovativer als eine kontinuierliche schwindelerregende Kamerabewegung.

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