"Grand Jeté" im Kino:Absolut verbotener Sex

"Grand Jeté" im Kino: Jenseits aller Tabus: Sarah Nevada Grether und Emil von Schönfels in "Grand Jeté".

Jenseits aller Tabus: Sarah Nevada Grether und Emil von Schönfels in "Grand Jeté".

(Foto: Little Dream Pictures)

Der Film "Grand Jeté" von Isabelle Stever ist visuell eindrücklich und hoch konzentriert. Niemand schämt sich. Und doch geht es um das vielleicht größte Tabu.

Von Annett Scheffel

Das Erste, was man sieht, ist Schmerz. Ein kaputter Körper. Schlank und durchtrainiert zwar, und immer noch voller Kraft, aber er lehnt sich auf gegen das Leben, in das er jahrelang mit brutaler Disziplin gezwungen wurde. Jede Bewegung ist eine Qual. Ein Körper als Last und eine erdrückende Schwere, das ist das Gefühl zu Beginn von

Isabelle Stevers Film "Grand Jeté". Extreme Nahaufnahmen von einem Rücken, der sich nach dem Schwimmen vor Schmerzen krümmt, und von einem Hals, an dem sich verkrustete Ekzeme gebildet haben.

Erst dann sehen wir zum ersten Mal Nadjas Gesicht. Jahrelang hat sie sich für ihre Karriere geschunden und alles andere vernachlässigt. Erfolg gab es für sie in der Welt des Balletts durch erbarmungslose Härte gegen sich selbst und andere. Jetzt bekommt Nadja einen Gehstock vom Arzt verschrieben, für den sie aber zu eitel ist. Stattdessen macht sie einfach weiter.

Mit Schmerzmitteln versucht sie den Zerfall ihres Körpers in Schach zu halten. Sie arbeitet als Ballettlehrerin, bis die Zehen bluten. Nichts aber vermag die Leere zu füllen. Nicht die Berliner Altbauwohnung, die sich gekauft hat, nicht die Beziehung zu ihrem Freund, nicht die Ballettstunden mit den jungen Mädchen, die sie mit der gleichen Unbarmherzigkeit trainiert wie einst sich selbst. Nadja hängt in der Luft, wie einst beim Grand Jeté, dem großen Spagatsprung, der dem Film seinen Titel gibt.

Als sie für eine Familienfeier an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt, trifft sie auf Mario, ihren Sohn. Der stille, leicht melancholische Teenager ist bei Nadjas Mutter in einer engen Neubauwohnung aufgewachsen, damit sie ihrer Karriere nachgehen konnte. Von Muttergefühlen habe Nadja keine Ahnung, heißt es einmal. Mutter und Sohn kennen sich kaum und haben sich wenig zu sagen. Und doch - oder vielleicht gerade deswegen - fühlen sie sich zueinander hingezogen. Zwei Fremde, die wie zufällig miteinander verwandt sind, sich aber nicht darum scheren - und bald beginnen, sich in einer inzestuösen Beziehung einander anzunähern.

Über moralische Fragen geht Isabelle Stever einfach hinweg

Isabelle Stever inszeniert das vielleicht größte Tabu in einem konzentrierten, visuell eindrücklichen Film. Grenzen gibt es hier genauso wenig wie in der Romanvorlage von Anke Stelling ("Fürsorge", 2017). Oder genauer gesagt: Die Filmemacherin konfrontiert den Zuschauer gar nicht erst mit moralischen Fragen, sondern geht einfach darüber hinweg und direkt hinein in die Beziehung einer abwesenden Mutter und ihres Sohnes. Es sind körperliche Begegnungen, bei denen beide zwar vordergründig den jeweils anderen erforschen, aber im Grunde vor allem sich selbst und die eigenen Grenzen.

Stever verweigert sich jeder Bewertung. Niemand stellt in "Grand Jéte" Fragen. Niemand schämt sich. Und niemand spricht Erklärungen aus. Für die Figuren erscheint in der Logik der Dysfunktionalität ihrer Familienbeziehung alles irgendwie seinen Sinn zu ergeben. Im Grunde will das Wort Inzest auch nicht ganz zu dem passen, was man in diesem Film sieht. Es ist nicht genau genug. "Grand Jeté" ist viel mehrdeutiger als der viel diskutierten Film "Ma Mère" mit Isabelle Huppert, an den er vielleicht denken lässt. In seiner kompromisslosen Transgression erinnert er eher an David Cronenbergs "Crash" oder Julia Ducournaus "Titane".

Beeindruckend ist vor allem, dass Isabelle Stever dafür mit ihrem Kameramann Constantin Campean eine ganz eigene, radikale filmische Form gefunden hat, die zum Umgang mit den sozialen Normen passt. Die Kamera ist extrem nah dran an den Körpern der beiden Darsteller Sarah Nevada Grether und Emil von Schönfels, zeigt sie im Halbdunkel und aus ungewöhnlichen Winkeln, von oben, von hinten, immer mit geringer Tiefenschärfe, die das Geschehen und die Räume, in denen sie sich bewegen, verwischen. Die Sexszenen sind intensiv, aber seltsam leidenschaftslos. Die Körper sind in einer Welt der emotionalen Entfremdung die einzige Ausdrucksform für Mutter und Sohn.

Denn auch Mario hat ein obsessives Verhältnis zu seinem Körper. Jeden Tag trainiert er im Fitnessstudio und nimmt in geheimen Kink-Clubs an Wettbewerben teil, bei denen Gewichte mit Penis und Hoden für ein Preisgeld gehalten werden müssen. Seine jugendliche Freiheit und Bedenkenlosigkeit ist ein Kontrast zu Nadjas Körperlichkeit: ein mit Krafttraining perfektionierter Körper, jung und strahlend, und sein geschundenes Gegenstück, das ein ganzen Leben lang den Anforderungen des Balletts unterworfen wurde. Beide nutzen den Körper des anderen aus, um ihren eigenen zu spüren. Ihnen dabei zuzusehen, ist ein verstörendes und hypnotisches Erlebnis, das man so selten im Kino sieht.

Grand Jeté, D 2022 - Regie: Isabelle Stever. Buch: Anna Melikova, nach Anke Stelling. Kamera: Constantin Campean. Schnitt: Paul Gröbel, Jil Lange. Mit: Sarah Nevada Grether, Emil von Schönfels, Susanne Bredehöft, Stefan Rudolf. Little Dream Pictures, 105 Minuten. Kinostart: 11. 8. 2022.

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