"Heey", schmettert der Mann mit dem quer gestreiften Hemd und der diagonal gestreiften Krawatte. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, in der Mitte entsteht eine tiefe Furche. "Print is dead", konstatiert er. Die Furche verschwindet, und stattdessen erscheinen sehr weiße Zähne und ein breites Grinsen: "is never dead".
Print ist also gestorben und wiederauferstanden. Der Mann, der das verkündet, ist Sprecher im Ankündigungsvideo für die Kunstbuchreihe "100for10". Die Macher von "100for10" fanden ihn bei "Fiverr", einer Onlineplattform, auf der Menschen aus aller Welt Dienstleistungen für den Preis von fünf Dollar anbieten. "Fiverr" ist der Inbegriff der neuen Arbeitswelt, und man hätte sich wohl keine bessere Werbestrategie für "100for10" ausdenken können, denn ohne Globalisierung und Digitalisierung wäre auch dieses Projekt niemals möglich gewesen.
Der Grundgedanke von "100for10": Jeweils ein Künstler gestaltet einen Band der Reihe. Die einzigen Vorgaben: Das Buch wird in Schwarz-Weiß gedruckt, umfasst 100 Seiten und kostet zehn Euro. Hinter dem Projekt steckt das Münchner Designbüro Melville Brand Design. Lars Harmsen, Kreativdirektor bei Melville, kam auf die Idee, als er die Print-on-demand-Druckerei Lulu entdeckte. Das Unternehmen hat überall auf der Welt Standorte. Bestellt jemand irgendwo einen "100for10"-Band, übernimmt Lulu Druck und Versand. Weil das nur etwa 3,50 Euro kostet, kann Melville die Künstler mit 25 Prozent am Verkaufspreis beteiligen, ungewöhnlich viel in der Branche. Vor zwei Monaten nahm "100for10" die Arbeit auf, mehr als fünfzig Künstler konnten bisher gewonnen werden, darunter Grafikdesigner, Illustratoren und Fotografen aus Berlin, Tokio oder New York.
Grund für das Interesse der Künstler dürften wohl weniger die 2,50 Euro pro Buch sein als die Freiheit, auf 100 Seiten machen zu können, was man will. "5 Stifte Hin + Rückfahrt" etwa, der Band des Illustrators Frank Höhne, entstand auf einer Zugfahrt von Berlin nach Dortmund und zurück, in sieben Stunden also. Dementsprechend spontan dahingekrakelt sehen die Zeichnungen aus. Höhne klamaukt sich durch seine hundert Seiten mit einem Personal, das einem Heinz-Strunk-Roman entsprungen sein könnte: grobschlächtige Verlierertypen, triebgesteuert, fettleibig, von Hautproblemen geplagt. Da vergnügt sich beispielsweise ein Junge an einer aus diversen Haushaltsutensilien zusammengeschusterten Gerätschaft, während seine Mutter durch die Tür lugt. In der Bildunterschrift liest man: "Ach, nochma 13 sein."
Die Arbeiten der Zeichnerin Martina Wember sind in ihrer heiteren Aufgeräumtheit das Kontrastprogramm zu Höhne: In klaren Linien verschmelzen hier Alltagsgegenstände mit geometrischen Formen. Die verqueren Figuren stehen neben den Abdrücken von Behördenstempeln, die mal fehlerhaft, mal ganz und gar kryptisch daherkommen. Der lautmalerisch anmutende Stempel "S.r.u.r.r. Berlin, den. . ." inspirierte Wember etwa zu einem raketenähnlichen Konstrukt auf dem Weg gen Himmel.
Das offene Format bietet sich an, um noch unbekannte Künstler oder neue Facetten zu entdecken
Dann wäre da wiederum der Band von Damir Doma, im Hauptberuf gefeierter Nachwuchsmodedesigner. Seine hundert Seiten füllte er mit den Fotocollagen, die ihm normalerweise bei seiner Arbeit als Inspirationsquellen dienen. Wie der Experimentalfilm eines Nouvelle-Vague-begeisterten Kunststudenten sieht das aus, kurz nach einem Besuch im Museum of Modern Art. Schnipsel aus Arbeiten von Helmut Newton, Robert Mapplethorpe oder Louise Bourgeoise verarbeitete Doma zu eklektischen Bilderrätseln: Hier der umgedrehte Hinterkopf von Sinéad O'Connor, da eine Freitreppe, deren Stufen sich in die Blütenblätter einer Chrysantheme öffnen, dort die Hand von Audrey Hepburn, eine Zigarette haltend.
Gewiss ist nicht alles, was man bisher in den "100for10"-Bänden findet, große Kunst. Um Neues zu entdecken, bietet sich das offene Format allerdings vortrefflich an. Reizvoll ist außerdem, dass die Illustrationen und grafischen Arbeiten in dem Medium rezipiert werden können, für das sie gemacht sind - also nicht vor der Glasvitrine einer Galerie, sondern auf Papier, zum Anfassen und Umblättern.
Natürlich kann man einwenden, dass das Geschäftsmodell von "100for10" den Buchhandel außen vor lässt. Zieht man jedoch die unzähligen auf Couchtischen verstaubenden Hochglanz-Bildbände in Betracht, so klingt die Idee einer unprätentiösen Kunstbuchreihe allemal charmant. Ganz nach der Losung des Fotografen Robert Frank, die sich die Macher zu eigen gemacht haben: "billig, schnell und schmutzig, so mag ich das".