Dokumentation über Schlaflosigkeit:Wenn Träumen und Wachen zusammenfließen

Hypnotisierende Leere der Nacht: Die Dokumentarfilmerin Jacqueline Zünd ist vier Menschen auf vier Kontinenten gefolgt, die nicht mehr schlafen können. Ihrem Film "Goodnight Nobody" geht es nicht um die medizinische Implikation, sondern um eine Parallelwelt: Sie kommt dem Gefühl zwischen Betäubung und Klarheit beeindruckend nah.

Annett Scheffel

Kraftlos starrt Lin Yao auf die rotleuchtenden Zahlen ihres Digitalweckers. 3:32 Uhr. Verquollen sind ihre Augen, beinahe leblos ihr Blick. Lin Yao ist eine Schlaflose. Sie lebt in Shanghai, "einer Stadt voller Stress", wie sie sagt. Der Erwartungsdruck der chinesischen Leistungsgesellschaft hat ihr den Schlaf geraubt. Die Nacht ist für die Krankenschwester eine täglich wiederkehrende Qual, die sie still duldend verbringt. Der Wecker schlägt um. 3:33 Uhr.

Dokumentation über Schlaflosigkeit: Fedir ist eine öffentliche Sensation: "Mister Insomnia" nennen ihn die Zeitungen. Seit zwanzig Jahren will der Rentner, der mit seiner Familie im ukrainischen Hinterland lebt, nicht mehr geschlafen haben. Seine Nächte verbringt er am Küchentisch; füllt die Leere mit einem Gläschen Wodka und Erzählungen über die Ärzte, die schon zu ihm ins Dorf kamen, um seine rätselhafte Schlaflosigkeit zu untersuchen.

Fedir ist eine öffentliche Sensation: "Mister Insomnia" nennen ihn die Zeitungen. Seit zwanzig Jahren will der Rentner, der mit seiner Familie im ukrainischen Hinterland lebt, nicht mehr geschlafen haben. Seine Nächte verbringt er am Küchentisch; füllt die Leere mit einem Gläschen Wodka und Erzählungen über die Ärzte, die schon zu ihm ins Dorf kamen, um seine rätselhafte Schlaflosigkeit zu untersuchen.

(Foto: Mixtvision)

"Goodnight Nobody", ein bildstarker und preisgekrönter Dokumentarfilm der Schweizer Regisseurin Jacqueline Zünd, folgt vier Insomniacs in die ebenso trostlose wie hypnotisierende Leere der Nacht. Lin Yao, Jérémies, Mila und Fedir. Vier Menschen auf vier verschiedenen Kontinenten, die die Fähigkeit verloren haben zu schlafen, die unfreiwillig einem Naturgesetz zu trotzen scheinen. "Es ist absurd, als hätte man etwas Normales wie das Lachen verlernt", sagt Jacqueline Zünd, die der Zustand der Schlaflosigkeit seit ihrer Kindheit fasziniert.

Die Regisseurin verhandelt die Schlaflosigkeit aber nicht als medizinisches Problem. Krankheitsstatistiken interessieren sie ebenso wenig wie denkbare gesellschaftliche Hintergründe, etwa unsere immer schnellere Lebensweise.

Zünd geht es um die nächtliche Welt der vier Protagonisten, in der Träumen und Wachen zusammenfließen. Der Zuschauer ermüdet selbst im ruhigen Fluss der Bilder und ist gleichzeitig hellwach. Beeindruckend nah kommt der Film diesem Gefühl zwischen Betäubung und Klarheit. Die Nacht ist nicht länger die große Pause, sie erscheint als Heimat der Schlaflosen. Einerseits finden sie hier den ersehnten Schutz vor der Hektik des Tages, andererseits stehen sie ihrer Leere vollkommen wehrlos gegenüber.

Die Welt ist für Menschen gemacht, die am Tag leben." Mila ist eine junge Arbeitslose, die ihre Nächte in Tuscon, Arizona, als Kampf mit der lähmenden Langeweile erlebt. Ihr mit schwarzem Kajal umrandeter Blick ruht auf flimmernden Fernsehbildern. So vergeht die Zeit schneller, sagt sie, weil man die Stille um sich herum vergisst. Die Zeit ist Milas Gegner; sie hat zu viel davon.

Jérémies dagegen hat seinen Beruf seiner Schlaflosigkeit angepasst und arbeitet als Nachtwächter eines Theaters in Burkina Faso. Hier streift er umher; tanzend zur Ragga-Musik, die aus seinem Ghettoblaster tönt. In den Räumen des nächtlichen Theaters hat er sich ein eigenes Reich geschaffen, in dem die streunenden Katzen zu Schauspielern werden und er zum Regisseur. Seine Nacht ist eine Fantasiewelt, geisterhaft und magisch: "Schlaflose können die Geister sehen."

Im Gegensatz zu ihm und den anderen Schlaflosen, die für die Außenwelt unbemerkt im Grau der Nacht verschwinden, ist Fedir eine öffentliche Sensation: "Mister Insomnia" nennen ihn die Zeitungen. Seit zwanzig Jahren will der Rentner, der mit seiner Familie im ukrainischen Hinterland lebt, nicht mehr geschlafen haben. Seine Nächte verbringt er am Küchentisch; füllt die Leere mit einem Gläschen Wodka und Erzählungen über die Ärzte, die schon zu ihm ins Dorf kamen, um seine rätselhafte Schlaflosigkeit zu untersuchen.

Eine einzige weltumspannende Nacht, so scheint es, hat sich in diesem Film über die Erde gelegt - aber überall sieht diese Nacht anders aus. In Burkina Faso wandelt sich eine vom Staub gelblich verschleierte Dämmerung in schwarze Nacht, nur spärlich beleuchtet von einzelnen Neonröhren. In der ukrainischen Einöde ist die Nacht grau, in Shanghai blau, stets erhellt vom urbanen Lichterspiel der Hauswände und Laternen.

Eindrücklich sind die Bilder, poetisch in ihrer visuellen Sogkraft. Filter, Farben und eine grobe Körnung schaffen eine seltsam entrückte Atmosphäre. Monoton, beinahe tranceartig reihen sich die Bilder aneinander. Der physische Zustand der Schlaflosigkeit - dieser quälende und zugleich lustvolle Rausch, das Gefühl die Nervenstränge lägen außerhalb der Haut - werden durch die Bilder ebenso spürbar wie durch die surrenden, pochenden Klänge von Marcel Vaids Filmmusik.

Die Welt der Schlaflosen erscheint als Parallelwelt, deren Bewohner abseits der gesellschaftlichen Routinen leben. " Es ist eine Art Traumwelt", sagt Lin Yao. "Als würde man durch Götterspeise schwimmen", fügt Mila hinzu.

So faszinierend die Welt der Schlaflosen anmutet, so peinigend ist der Zustand für die Betroffenen. Ganz klar wird das erst, als die Morgendämmerung das vermeintliche Ende des qualvollen Wartens ankündigt. "Wenn die Nacht dein Zuhause ist, ist der Tag niemals schön", sagt Jérémies, als im blassen Sonnenlicht die Bewegung in die Stadt zurückkehrt.

Zwischen den grauen Silhouetten der Radfahrer, die den staubigen Grund aufwirbeln, ist er nicht mehr Herrscher über das nächtliche Theaterreich, sondern wieder ein schlafloser Sonderling. Phantom einer ruhelosen Welt, der die Verbindung zu ihrer inneren Uhr mehr und mehr abhandenkommt.

Regie und Buch: Jacqueline Zünd. Kamera: Nikolai von Graevenitz, Lorenz Merz. Mit: Mila Dean, Jérémie Kafando, Lin Yao. Mixtvision, 77 Minuten.

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