Süddeutsche Zeitung

"Good Country":Schönes neues, digitales Land

  • Der ehemalige Politikberater Simon Anholt hat einen digitalen "Staat" gegründet, der Millionen von Kosmopoliten miteinander vernetzen soll.
  • Ziel sei es, andere Länder zu einer global ausgerichteten Politik zu bewegen.

Von Carlotta Cornelius

Man stelle sich ein neues Land vor. Ein Land, das rein digital existiert. Dessen Bürger in den verschiedensten Staaten leben, sich aber als Bürger der ganzen Welt verstehen. Ein Land mit niedrigen Steuern, weil es keine Straßen oder Schulen bauen und keine Grenzen verteidigen muss. Ein Land mit einem einzigen kollektiven Ziel: dem Wohl der internationalen Gemeinschaft, dem Wohl der anderen.

Wenn es nach dem früheren Politikberater Simon Anholt geht, könnte das nun Realität werden - mit "Good Country", dem wohl ersten digitalen Land überhaupt. Seit Montag können sich 200 000 Interessenten bis Jahresende als Bürger registrieren, danach startet eine "geschlossene" Eingangsphase binnen derer Anholt sicherstellen will, dass alle Prozesse reibungslos funktionieren. Von September kommenden Jahres an will er die Tore des Good Country dann dauerhaft öffnen.

Der Name lehnt sich an den von Anholt entwickelten "Good Country Index" an, eine Rangliste von Staaten, die bemisst, wie gut sich ein Land im internationalen Vergleich "benimmt". Keinen Krieg anzufangen, reicht da nicht. "Was zählt ist, wie viel ein Land für den Rest der Menschheit leistet", hat Anholt 2014 in einem TED-Talk erklärt. Zum Beispiel, wie stark es sich in puncto Friedenspolitik, Klimaschutz oder Wissenschaft engagiere. Nach einer aktuellen Erhebung des World Values Survey teilen gut zehn Prozent der Weltbevölkerung ein kosmopolitisches Werteverständnis. Für das Good Country wären das etwa 760 Millionen potenzielle Bürger, damit wäre es nach China und Indien die drittgrößte Nation der Welt.

Wie wichtig eine global ausgerichtete Politik ist, weiß Anholt genau: In seinen 20 Jahren als Politikberater hat er mit Staats- und Regierungschefs aus mehr als 50 Ländern zusammengearbeitet. Doch bislang dominiere das Gegenteil. Wie verbreitet nationale Denkweisen sind, bewiesen zuletzt Beispiele wie Großbritanniens Brexit oder die USA. "Trumps 'America first' ist im Grunde die Position jeder Regierung", erklärt Anholt. "Es ist weder überraschend noch falsch, es ist schlicht traditionell. Aber im 21. Jahrhundert, wo wir so globalisiert und miteinander verbunden sind, funktioniert dieses Prinzip einfach nicht mehr." Drogenhandel in Mexiko, Armut in Sierra Leone, Konflikte in Afghanistan - das seien Probleme, sagt Anholt, die staatsübergreifende Auswirkungen und Ursachen haben und sich nur durch internationale Zusammenarbeit aus der Welt schaffen ließen.

Das Good Country soll einen Gegenpol zur nationalen Ausrichtung der Länder schaffen, eine globale Politik verkörpern und vermitteln, aber auch eigene Ziele in Angriff nehmen. Etwa, Länder durch gezielte Investitionen in Umweltschutzprogramme dazu zu bringen, ihre CO₂-Emissionen zu verringern. Wie genau die Agenda der ersten Jahre aussieht, sollen die Bürger auf demokratischer Basis selbst entscheiden.

Das nationale Interesse soll das internationale Interesse sein

Da das Good Country nicht mit den typischen Problemen einer realen Nation zu kämpfen hat, ist es in der Lage, sich fast ausschließlich nach außen zu richten. Es soll andere Länder diplomatisch zu einem gemeinschaftlicheren Verhalten erziehen. Und das geht Anholts Meinung nach nur, wenn man sich mit ihnen auf ein diplomatisches Level begibt, das UN und NGOs verwehrt bleibt.

Charitys und NGOs machen laut Anholt zwar auf Probleme aufmerksam, konzentrieren sich aber mehr auf deren individuelle Ausformungen als auf die kulturellen Aspekte, die ihnen zugrunde liegen. Unternehmen wiederum besäßen zwar Geld und Einfluss, handelten aber in erster Linie aus Eigeninteresse. "Ergo braucht man eine Art Hybrid, der die besten Aspekte dieser unterschiedlichen Akteure vereint", sagt Anholt. "Man braucht etwas, das die Macht eines Nationalstaates hat und die Kommunikationsfähigkeit der besten NGOs. Ein neues Land mit Millionen von Bürgern und Milliarden von Dollar, dessen nationales Interesse das internationale Interesse ist."

Dazu zählt auch der Plan, das Good Country dereinst offiziell von den Vereinten Nationen als Staat anerkennen zu lassen. Natalie Tröller, ehemalige Carlo-Schmid-Stipendiatin bei den Vereinten Nationen in New York und Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Außenpolitik der Universität Trier, hält das für unwahrscheinlich. "Staatlichkeit ist erstens an bestimmte Attribute gebunden. Gleichzeitig muss man von einem Großteil der Staaten in den Vereinten Nationen als solcher anerkannt werden."

Lässt man das Länder-Label außer Acht, ist Anholts Idee keine neue. Die Vorstellung eines Weltbürgertums beschäftigte schon Sokrates im antiken Griechenland und Immanuel Kant legte mit "Zum ewigen Frieden" die kosmopolitisch pazifistische Grundlage, auf die sich heute die Vereinten Nationen sowie internationale Weltbürgerverbände wie die Association of World Citizens (AWC) stützen. Seit 1954 vergibt die World Service Authority (WSA) den symbolischen World Passport, Autor und Friedensaktivist Joseph E. Schwartzberg gründete darüber hinaus den Workable World Trust, der sich der weltföderalistisch-orientierten Umgestaltung globaler Institutionen wie den UN verschrieben hat. Was Workable World Trust und AWC gemeinsam haben: kaum einer kennt sie. Der AWC Deutschland verzeichnet derzeit 91 Mitglieder, kein Vergleich zu den Zahlen, mit denen Anholt spekuliert.

Aber wie genau stellt Anholt sich das mit seinem neuen Land vor? Während es Verbänden wie dem AWC an Einfluss fehlt und Projekten wie dem Workable World Trust an Schnittstellen zur Bevölkerung, geht Anholts Idee ein paar Schritte weiter. In Sachen Vernetzung und praktischer Handhabung wirkt das Konzept, wie er es beschreibt, wie eine neue Generation des sozialen Netzwerks. Wichtiger Baustein hierfür ist die digitale Plattform des Good Country, die mittels künstlicher Intelligenz und einem Blockchain-basierten Demokratiesystem weitestgehend autonom agieren soll. "Damit wird die Bevölkerung des Good Country zu einer selbstorganisierenden Einheit ohne Regierung", sagt Anholt. "Die KI verhindert außerdem, dass man darauf angewiesen ist, komplizierte Sachverhalte auf simple Ja-Nein-Antworten zu reduzieren."

Eine Nation also, in der jeder direkt mitreden und aktiv werden kann - zumindest in der Theorie. Während die KI-Plattform die Basis für demokratische Abstimmungen bildet, können Nutzer auch untereinander in Kontakt treten und sich austauschen. Um finanziell unabhängig zu bleiben und langfristig größere Förderprojekte im "Ausland" realisieren zu können, soll es außerdem Steuern geben, die sich auf fünf Dollar jährlich belaufen. Wer sich das nicht leisten kann, kann entweder durch einen anderen Bürger gesponsert werden oder ehrenamtliche Arbeit leisten. Grundsätzlich soll jedem Weltbürger eine Teilhabe am Good Country offenstehen. Politikwissenschaftlerin Natalie Tröller sieht das kritisch. "Das Konzept soll alle Weltbürger ansprechen, steht de facto aber nur denen offen, die lesen und schreiben können und über moderne Kommunikationstechnologie verfügen", argumentiert sie. "Das macht es für eine bestimmte Schicht eher zugänglich als für andere."

Jeden der 760 Millionen angepeilten Weltbürger wird Anholt mit seinem Konzept wohl nicht erreichen. Trotzdem könnte das Good Country erstmals einer breiten Masse eine Möglichkeit bieten, sich auf internationaler Ebene unmittelbar und ohne große Mittel zu engagieren. Viermal im Jahr soll es sogenannte "idea days" geben, bei denen Bürger eigene Ideen einbringen können. Das "air traffic control team" (ATC) brieft die Bevölkerung wöchentlich über aktuelle Ereignisse und globale Herausforderungen, während ein kleiner "civil service" - dem Anholt angehören wird - administrative Aufgaben übernehmen soll. Um Viren und Trolle zu unterbinden, soll das Good Country außerdem mit einer "cyber defence force" ausgestattet werden. "Jeder Bürger kann jeden Job machen", sagt Anholt. Welche Jobs das im Genauen sein können, lässt er noch offen.

Die Startstrukturen will er zum Beginn des Projekts bereitstellen, die fachliche Bearbeitung von Problemen soll an Experten und Thinktanks ausgelagert werden. Für den diplomatischen Kontakt zur Außenwelt hat Anholt in dem Politikwissenschaftler Parag Khanna außerdem einen "Außenminister" gefunden. Im Anschluss an die Eingangsphase soll es dann reguläre Wahlen geben.

Das Good Country braucht keine Marketingstrategie, es ist eine

Die Reaktionen, die Anholts Team seit der Ankündigung aus aller Welt ernte, seien enthusiastisch, sagt Anholt, das Projekt praktisch ein Selbstläufer. Aber ist die Erwartung realistisch, mit einem digitalen Land Einfluss auf die internationale Politik zu nehmen? Natalie Tröller sieht in dem Staatenbranding des Good Country vor allem Marketingstrategie. "Das Konzept erinnert an eine Art NGO, die auf internationaler Ebene Lobbyarbeit betreiben möchte. Unter dem Siegel des Staates lässt sich das natürlich sehr gut verkaufen", sagt sie. Sofern das Good Country in der Lage sei, Interessen und Einzelpersonen zu mobilisieren, sei ein Einfluss auf die internationale Politik durchaus vorstellbar.

Ob sein Konzept aufgeht, will Anholt unter anderem anhand des Good Country Index ermitteln. Gingen die Werte der Länder insgesamt nach oben, wäre das ein Indiz dafür, dass sich das globale Engagement der Regierungen verändere. "Was wir nicht mit Sicherheit wissen können, ist, wie sehr die Veränderung auf das Good Country zurückfällt. In gewisser Weise spielt es keine Rolle - entweder wir erreichen etwas oder sind Teil einer globalen Errungenschaft", sagt er. Dass Staaten internationales Engagement und transnationale Zusammenarbeit auch im Sinne eigener Interessen wahrnähmen, sei ein wichtiger Schritt zu einer verstärkt global ausgerichteten Politik.

Wie groß Anholts eigene Rolle als "bescheidenes Mitglied" des "civil service" tatsächlich sein wird, wer die Kandidaten für die erste Ministerwahl stellt, ob und wie man sich als Bürger für eines der Ämter qualifizieren und darin tätig werden kann, wird sich erst im Lauf des ersten Jahres herauskristallisieren, in dem die Prozesse des digitalen "Staats" getestet werden sollen. Da die Startstrukturen des Good Country zunächst keinem demokratischen Prozess erwachsen, wird das Ausmaß der Bürgerbeteiligung im ersten Jahr zwangsläufig geringer ausfallen als langfristig geplant. Ein Staat, in dem ein Teil der Bevölkerung das Gefühl haben muss, von oben herab regiert zu werden, wäre jedenfalls nichts Neues. In diesem Fall wäre es schade um eine spannende Idee.

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