Man stelle sich ein neues Land vor. Ein Land, das rein digital existiert. Dessen Bürger in den verschiedensten Staaten leben, sich aber als Bürger der ganzen Welt verstehen. Ein Land mit niedrigen Steuern, weil es keine Straßen oder Schulen bauen und keine Grenzen verteidigen muss. Ein Land mit einem einzigen kollektiven Ziel: dem Wohl der internationalen Gemeinschaft, dem Wohl der anderen.
Wenn es nach dem früheren Politikberater Simon Anholt geht, könnte das nun Realität werden - mit "Good Country", dem wohl ersten digitalen Land überhaupt. Seit Montag können sich 200 000 Interessenten bis Jahresende als Bürger registrieren, danach startet eine "geschlossene" Eingangsphase binnen derer Anholt sicherstellen will, dass alle Prozesse reibungslos funktionieren. Von September kommenden Jahres an will er die Tore des Good Country dann dauerhaft öffnen.
Der Name lehnt sich an den von Anholt entwickelten "Good Country Index" an, eine Rangliste von Staaten, die bemisst, wie gut sich ein Land im internationalen Vergleich "benimmt". Keinen Krieg anzufangen, reicht da nicht. "Was zählt ist, wie viel ein Land für den Rest der Menschheit leistet", hat Anholt 2014 in einem TED-Talk erklärt. Zum Beispiel, wie stark es sich in puncto Friedenspolitik, Klimaschutz oder Wissenschaft engagiere. Nach einer aktuellen Erhebung des World Values Survey teilen gut zehn Prozent der Weltbevölkerung ein kosmopolitisches Werteverständnis. Für das Good Country wären das etwa 760 Millionen potenzielle Bürger, damit wäre es nach China und Indien die drittgrößte Nation der Welt.
Wie wichtig eine global ausgerichtete Politik ist, weiß Anholt genau: In seinen 20 Jahren als Politikberater hat er mit Staats- und Regierungschefs aus mehr als 50 Ländern zusammengearbeitet. Doch bislang dominiere das Gegenteil. Wie verbreitet nationale Denkweisen sind, bewiesen zuletzt Beispiele wie Großbritanniens Brexit oder die USA. "Trumps 'America first' ist im Grunde die Position jeder Regierung", erklärt Anholt. "Es ist weder überraschend noch falsch, es ist schlicht traditionell. Aber im 21. Jahrhundert, wo wir so globalisiert und miteinander verbunden sind, funktioniert dieses Prinzip einfach nicht mehr." Drogenhandel in Mexiko, Armut in Sierra Leone, Konflikte in Afghanistan - das seien Probleme, sagt Anholt, die staatsübergreifende Auswirkungen und Ursachen haben und sich nur durch internationale Zusammenarbeit aus der Welt schaffen ließen.
Das Good Country soll einen Gegenpol zur nationalen Ausrichtung der Länder schaffen, eine globale Politik verkörpern und vermitteln, aber auch eigene Ziele in Angriff nehmen. Etwa, Länder durch gezielte Investitionen in Umweltschutzprogramme dazu zu bringen, ihre CO₂-Emissionen zu verringern. Wie genau die Agenda der ersten Jahre aussieht, sollen die Bürger auf demokratischer Basis selbst entscheiden.
Das nationale Interesse soll das internationale Interesse sein
Da das Good Country nicht mit den typischen Problemen einer realen Nation zu kämpfen hat, ist es in der Lage, sich fast ausschließlich nach außen zu richten. Es soll andere Länder diplomatisch zu einem gemeinschaftlicheren Verhalten erziehen. Und das geht Anholts Meinung nach nur, wenn man sich mit ihnen auf ein diplomatisches Level begibt, das UN und NGOs verwehrt bleibt.
Charitys und NGOs machen laut Anholt zwar auf Probleme aufmerksam, konzentrieren sich aber mehr auf deren individuelle Ausformungen als auf die kulturellen Aspekte, die ihnen zugrunde liegen. Unternehmen wiederum besäßen zwar Geld und Einfluss, handelten aber in erster Linie aus Eigeninteresse. "Ergo braucht man eine Art Hybrid, der die besten Aspekte dieser unterschiedlichen Akteure vereint", sagt Anholt. "Man braucht etwas, das die Macht eines Nationalstaates hat und die Kommunikationsfähigkeit der besten NGOs. Ein neues Land mit Millionen von Bürgern und Milliarden von Dollar, dessen nationales Interesse das internationale Interesse ist."
Dazu zählt auch der Plan, das Good Country dereinst offiziell von den Vereinten Nationen als Staat anerkennen zu lassen. Natalie Tröller, ehemalige Carlo-Schmid-Stipendiatin bei den Vereinten Nationen in New York und Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Außenpolitik der Universität Trier, hält das für unwahrscheinlich. "Staatlichkeit ist erstens an bestimmte Attribute gebunden. Gleichzeitig muss man von einem Großteil der Staaten in den Vereinten Nationen als solcher anerkannt werden."
Lässt man das Länder-Label außer Acht, ist Anholts Idee keine neue. Die Vorstellung eines Weltbürgertums beschäftigte schon Sokrates im antiken Griechenland und Immanuel Kant legte mit "Zum ewigen Frieden" die kosmopolitisch pazifistische Grundlage, auf die sich heute die Vereinten Nationen sowie internationale Weltbürgerverbände wie die Association of World Citizens (AWC) stützen. Seit 1954 vergibt die World Service Authority (WSA) den symbolischen World Passport, Autor und Friedensaktivist Joseph E. Schwartzberg gründete darüber hinaus den Workable World Trust, der sich der weltföderalistisch-orientierten Umgestaltung globaler Institutionen wie den UN verschrieben hat. Was Workable World Trust und AWC gemeinsam haben: kaum einer kennt sie. Der AWC Deutschland verzeichnet derzeit 91 Mitglieder, kein Vergleich zu den Zahlen, mit denen Anholt spekuliert.