Süddeutsche Zeitung

Berlinale:Die Höllenschlünde des Menschendaseins

Grausige Einblicke: Fatih Akin erzählt die Geschichte des Frauenmörders Fritz Honka, gespielt von dem hervorragenden Jonas Dassler.

Von David Steinitz, Berlin

Die Bäuche der Berlinale-Besucher sind in der Regel gut gefüllt, bevor sie in den feierlichen Galapremieren verschwinden, weil es während des Festivals mindestens so viele Häppchen-Empfänge wie Filme gibt. Natürlich ist nicht jeder ein Fan dieser Fressorgien. Außenminister Heiko Maas zum Beispiel beobachtete den Sturm aufs Buffet im Berlinale-Palast mit der Skepsis eines geübten Häppchen-Asketen, während er wartete, bis die Fotografen seine Freundin, die Schauspielerin Natalia Wörner, abgelichtet hatten.

Und am Samstag, bei der Weltpremiere von Fatih Akins Horrorfilm "Der goldene Handschuh", wünschte sich vermutlich mancher Festivalgast, er hätte es dem Politiker gleichgetan und wäre mit leerem Magen ins Kino gekommen. Zumindest ging während der Vorführung ein ordentliches Stöhnen und Ächzen durchs Publikum, und als das Licht wieder anging, waren einige Gesichter so blass, wie man es sonst nur nach Filmen von notorischen Festivalschrecks wie Lars von Trier oder Gaspar Noé kennt. Die heftigen Reaktionen machten die internationale Presse so neugierig, dass zu den üblichen Pressevorführungen noch eine Zusatzvorstellung anberaumt werden musste, um der Nachfrage gerecht zu werden.

Fatih Akin erzählt in "Der goldene Handschuh", frei nach dem gleichnamigen Roman von Heinz Strunk, die wahre Geschichte des Hamburger Serienmörders Fritz "Fiete" Honka. Der vergewaltigte, erstach, erschlug, erwürgte und zerstückelte in den Siebzigerjahren vier Frauen, die er in der Kiezkneipe "Zum goldenen Handschuh" auf St. Pauli kennengelernt hatte. Die mit einer Handsäge zerlegten Leichenteile versteckte er in seiner Wohnung in der Hamburger Zeißstraße 74 in einem Wandverschlag. Zur notdürftigen Kaschierung des Verwesungsgeruchs warf er noch ein paar Duftbäumchen dazu.

Der Schriftsteller Strunk hat diese Geschichte akribisch recherchiert und die alten Prozessakten durchgearbeitet. Außerdem hat er seinen Tatsachenroman noch um einige fiktive Protagonisten außerhalb der tristen Herrengedeckwelt des Fritz Honka erweitert. Diese Nebenstränge hat Fatih Akin für seine Verfilmung fast ganz gestrichen.

Stattdessen konzentriert er sich auf den Mörder, wobei er diese dramaturgische Verengung auch zum ästhetischen Prinzip erhebt. Der Film spielt fast nur in winzigen, stickigen Räumen. Eine einzige Roth-Händle-Tristesse aus Zigarettenrauch und Schweißgeruch. Sowohl in der kleinen Kneipe, wo der Mittdreißiger Honka nach jeder Menge "Fako" - Fanta und Korn - deutlich ältere, meist obdachlose Gelegenheitsprostituierte abschleppt, als auch in seiner heruntergekommenen Wohnung. Wie perfekt das Filmteam diese Schauplätze rekonstruiert hat, sieht man an den Original-Polizeifotos, die nach Honkas Verhaftung 1975 gemacht wurden und die zum Schluss im Abspann gezeigt werden.

Kein Entrinnen von der Anfangstortur

Aber zurück zum Beginn. Akin verzichtet auf eine Exposition, auf jedes dramaturgische Vorspiel. Gleich in der ersten Filmminute sehen wir den sturzbetrunkenen Honka die erste Leiche zersägen, während der Plattenspieler sein Lieblingslied spielt: "Es geht eine Träne auf Reisen".

Aus dieser Anfangstortur gibt es dann zwei Stunden lang kein Entrinnen mehr. Wir sehen Honka, wie er Frauen mit dem Kochlöffel und mit Bockwürsten penetriert und sie in betrunkenen Tobsuchtsanfällen tötet, so, wie es in den Gerichtsakten steht.

Akin verzichtet auf eine biografische Einordnung, auf Informationen aus Honkas früherem Leben - ein Rückblick, der im Roman einen zentralen Platz einnimmt. Darin erfuhr man, dass Honka vor den Morden selbst ein geschundener und geprügelter Hund war, dem nie etwas Gutes passiert ist. Das ist natürlich keine Rechtfertigung, aber zumindest eine Andeutung, was ihn zu dem gemacht haben könnte, der er war.

Im Film wirkt Honka wie ein zufällig vom Himmel auf die Reeperbahn gefallenes Monster, was diesen Horrortrip surrealer macht, als er in trauriger Wahrheit eigentlich war.

Dass der Film trotzdem nicht nur eine Rekonstruktion der Gewalt, sondern ein eindrucksvolles Drama über die Höllenschlünde des Menschendaseins geworden ist, liegt vor allem am hervorragenden Hauptdarsteller, Jonas Dassler. Der 23-Jährige spielt den deutlich älteren, entstellten Fritz Honka auch im größten Grauen noch als jemanden, hinter dessen schielenden Augen man das Gefühl hat, dass dort irgendwann mal ein Mensch zu Hause und ein anderes Leben möglich gewesen sein könnte. Für den Darstellerpreis am Ende des Festivals ist Jonas Dassler auf jeden Fall ein heißer Kandidat. Am 21. Februar startet der Film regulär in den deutschen Kinos. Und Fatih Akin? Bleibt auch nach der Berlinale dem Horror treu. Wie der Hollywood Reporter berichtet, wird er als Nächstes in den USA drehen, und zwar eine Neuverfilmung des Stephen-King-Romans "Feuerkind".

Im Wettbewerb wurde es derweil auch beim anderen großen Autorenfilmstar dieser Festivalausgabe nicht heiterer. Denn der französische Regisseur François Ozon ("8 Frauen"), der wie Akin ein regelmäßiger Gast bei der Berlinale ist, hat sich in "Grâce à Dieu" ebenfalls eine traurige, wahre Geschichte vorgenommen: den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen in der katholischen Kirche von Lyon.

Der Lyoneser Priester Bernard Preynat hat dort zwischen 1986 und 1991 Dutzende Jungen im Pfadfinderlager missbraucht. Obwohl er seine Taten intern zugab, deckte der Erzbischof von Lyon, Kardinal Philippe Barbarin, ihn jahrelang. Mittlerweile steht Barbarin ebenfalls vor Gericht, ihm wird Vertuschung vorgeworfen. Das Verfahren läuft seit Januar 2019, ein Urteil soll im März gefällt werden. Weshalb es für Festivalchef Dieter Kosslick natürlich ein Coup ist, diesen Film im Wettbewerb zu haben, denn so aktuell ist das Kino, das oft recht lange Produktionszeiten hat, selten.

Ozon hat lange mit den Missbrauchsopfern gesprochen, die sich im Verein "La Parole Libérée" (Das befreite Wort) zusammengeschlossen haben. Aus diesen Recherchen hat er eine Spielfilmhandlung konstruiert, die aber für seine Verhältnisse - Ozon ist berühmt für seine formalen Spielereien - sehr nah am Dokumentarischen ist. Alle Beteiligten tragen ihre Klarnamen. Er erzählt die Geschichte dreier Männer, die von Preynat missbraucht wurden, anhand von Briefen, E-Mails, Telefonaten, Gerichtsakten, die größtenteils im Original zitiert werden. Ein harter Stoff, der sich in dieser journalistischen Erzählform den klassischen Bewertungskriterien für einen Spielfilm eher entzieht, aber als verfilmte Skandalrecherche eine beeindruckende Leistung ist.

Nur wenige Menschen wollten Ozon bei diesem Vorhaben unterstützen, selbst alte Verbündete wie der Fernsehsender Canal+, der fast alle seine Filme kofinanziert hat, zogen sich zurück. Deshalb war die Finanzierung für den Regisseur diesmal eine schwierige Angelegenheit. Auf der Pressekonferenz sagte der 51-Jährige: "Wir haben gar nicht versucht, eine Finanzierung in Lyon zu bekommen, weil die Stadt sehr katholisch ist und die Mächtigen in Lyon sehr eng mit der Kirche verwoben sind. Wir wollten uns keine Zensur auferlegen und frei arbeiten können." Alle Szenen in und um Kirchen habe er extra nicht am Originalschauplatz Lyon, sondern in Belgien und Luxemburg gedreht.

Aus Angst, die Kirche könnte gegen den Film vorgehen, wurde "Grâce à Dieu" als Geheimprojekt gedreht, unter einem anderen Titel, wie der Produzent Nicolas Altmayer in Berlin berichtet: "Darin war überhaupt nicht die Rede von diesen barbarischen Taten." Trotzdem gibt es spätestens jetzt, mit der Premiere in Deutschland, Ärger für die Filmemacher. Der Anwalt des Priesters, Frédéric Doyez, will den französischen Kinostart am 20. Februar laut Medienberichten mit einer einstweiligen Verfügung verhindern. Sein Argument: Der Film würde zu einer Vorverurteilung seines Mandanten führen. Ozon sagte dazu in Berlin, dass die meisten, die den Film in Frankreich angreifen würden, ihn ja noch gar nicht gesehen hätten: "Das sind Attacken aus Prinzip." Er habe den Film schon vor Geistlichen gezeigt und von vielen Bischöfen eine positive Resonanz bekommen.

"Ne, du nicht": David Dietl porträtiert in "Berlin Bouncer" drei berühmte Berliner Türsteher

Damit das Berlinale-Wochenende aber nicht nur als große Mörder-Missbrauchs-Depression in Erinnerung bleibt, muss am Schluss noch kurz der wunderbare und heitere Dokumentarfilm "Berlin Bouncer" erwähnt werden, der am Sonntag außerhalb des Wettbewerbs Premiere hatte. Gezeigt wurde er in der Reihe "Perspektive Deutsches Kino", gedreht hat ihn David Dietl. Er ist der Sohn des Regisseurs Helmut Dietl und dreht schon seit einigen Jahren selber Filme ("König von Deutschland", "Ellas Baby").

In "Berlin Bouncer" porträtiert David Dietl drei berühmte Berliner Türsteher, die seit Jahrzehnten die Schwelle zu den aufregendsten Orten des Nachtlebens bewachen. Zum Beispiel Frank Künster, der 1989 nach Berlin ging, um BWL zu studieren, dem aber die Clubszene so sehr dazwischenkam, dass er bis heute nicht wieder aus ihr herausgefunden hat. Er bezeichnet sich selbst als "Exzessbetreuer".

Auch Sven Marquardt ist einer der Protagonisten des Films, der gefürchtete Zerberus des Techno-Clubs Berghain. Der 57-jährige gebürtige Ostberliner gibt auf Nachfrage des Regisseurs reumütig zu, dass er manchmal "so 'n Mitjefühl" mit den Leuten hat, die er nicht reinlässt. Und dass er wegen dieser Zurückweisungen Angst hat, nach dem Tod "in so 'ne Hieronymus-Bosch-Zwischenhölle zu kommen". O-Ton Marquardt: "Da muss ich dann als Strafe immer an die Tür klopfen, aber es heißt nur: Nee, du nicht!"

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SZ vom 11.02.2019/biaz
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