Süddeutsche Zeitung

"Götter und Tiere" von Denise Mina:Das Leben als Tattoo

Ist der Kriminalroman ein an sich politisches Genre? In ihren Händen schon: Denise Minas Bücher erzählen von Klassengefälle und Familienzusammenhalt.

Von Fritz Göttler

Die wirklich aufregenden Szenen einer Ehe spielen sich in der Früh ab. Zwischen Abgeklärtheit und Erwartung, das Leben im Griff haben, Lust entwickeln aufs Tagespensum. Wenn nur die verflixte Zeitung nicht wäre ...

Die Frau, Annie, bringt schon die Kinder zur Schule, in wenigen Minuten wird sie zurück sein. Der Mann, Kenny, ist ein wenig unruhig, hat ein paar wilde Fantasien. Er schält eine Orange, isst sie Stück für Stück. Sein Bild ist auf der Titelseite der Zeitung: KLASSENVERRÄTER!

Kenny Gallagher ist der Kandidat von Labour für die kommende Parlamentswahl, er gilt als einer der Guten in der Politik. Trotz seiner Herkunft aus dem gehobenen Bürgertum - kein Arbeitermilieu - und mancher Affären mit Frauen, es gibt Fotos. Die neueste, eben aufgedeckt, ist schlimm, er soll ein Mädchen aus dem Jugendkomitee seiner Partei, siebzehn, gevögelt haben, auf einer Versammlung in Inverness, und Reise und Unterkunft seien mit Fraktionsgeldern bezahlt worden. Das sei wohl eine Selbstverständlichkeit, bereitet Kenny schon mal seine Verteidigung vor, wenn man jungen Parteiaktiven Spesen nicht erstatte, stünde die Politik nur dem offen, der sie sich leisten könne, der Mittelklasse. Die Arbeiterklasse wäre draußen aus der Politik ...

Politik, Drogen, Korruption in Glasgow. Und eine stillende Polizistin

Schwieriger ist es, im Haus Gallagher mit der Affäre umzugehen. Annie kommt zurück, geht, ohne ein Wort, gleich nach oben. Er folgt, sie hockt auf dem Klo, hat die Badezimmertür nicht zugemacht. Seine Finger sind klebrig, von der Orange. Annie ist wütend, sie hat die Zeitung gesehen. Und der Sohn wird in der Schule von den anderen Jungs gelöchert. Kenny wiegelt ab, er habe sie gewarnt, sagt er Annie, die Presse würde gegen ihn, den Kandidaten, losgehen, Zwiespalt provozieren in der Partei. "Würde ich dir ins Gesicht lügen?" Sie schließt die Augen: "Bildest du dir wirklich ein, dass ich nicht weiß, wie ein Wichsfleck aussieht?" Kenny fühlt sich ertappt, es gab durchaus solche Makel, aber diesmal nicht: "Es musste Monate her sein, das letzte Mal, als er hinterher nicht hatte duschen können." Ein Macho-Kandidat.

Die Szene einer Ehe, in der die Misere des modernen Mittelstands hochkocht. Männlicher Chauvinismus, der mit seiner Selbstdarstellung kämpft, die defensive Hilflosigkeit der Frau, die der Mann für sich nutzen kann, irrationale Entschlüsse. Wider besseres Wissen, mit einer unausweichlichen, grotesken Konsequenz, aus Instinkt und politischer Intelligenz heraus kündigt Kenny an, er werde die Zeitung verklagen, wegen Verleumdung, für die Frau. Seine Mitarbeiter sind entsetzt, der Shitstorm tobt bereits, die immensen Prozesskosten! Kenny kann nicht gewinnen.

Um Kenny Gallagher dreht sich alles in "Götter und Tiere", dem dritten von insgesamt fünf Romanen um Police Detective Alex Morrow von der Kriminalpolizei Glasgow, er entstand 2012, erst jetzt ist er als letzter der Reihe auch auf Deutsch erschienen. Alex hat eben Zwillinge bekommen, sie stillt sie, ihr Mann bleibt zu Hause, während sie wieder zum Dienst geht. Ich schreibe politische Romane, sagt Denise Mina, keine Genreliteratur. Sie verfasst zudem Bühnenstücke und arbeitet an Graphic Novels mit, darunter eine nach der Millennium-Serie von Stieg Larsson.

Denise Mina blickt von außen und innen zugleich auf die Stadt, sie wurde in Glasgow geboren, lebte aber in diversen anderen Städten mit der Familie, Paris, Den Haag, Bergen, der Vater war Ingenieur bei einer Erdölfirma. Sie studierte Jura, schrieb 1998 ihren ersten Kriminalroman. Die Morrow-Serie zeigt Glasgow in der ersten Hälfte der Zehnerjahre, Drogenbanden übernehmen die Stadt, Umsatz über eine Milliarde Pfund im Jahr, für die Geldwäsche nutzen sie Frisiersalons, Sonnenstudios, Cafés - sogar Kindertagesstätten mit fingierten Kinderzahlen. Die Korruption in der Polizei ist alltäglich, groß die Verlockung. Das neue Gangsterbürgertum: "Siehst du das Auto da? Eins zu zehn, dass das eine Gangsterkarre ist. Der Range Rover da? Gehört wahrscheinlich einem Drogendealer. Das Auto daneben - sein Anwalt ... Die arbeiten alle am gesellschaftlichen Aufstieg ... Keiner weiß, was in dieser Stadt los ist ... Du kannst das Muster nicht sehen, bis du selbst Teil davon bist."

Das klassische Krimi-Whodunit interessiert Denise Mina nicht, es gibt so viele andere Fragen als die, wer's denn getan hat: Werden sie damit durchkommen? Wollten sie das wirklich? Warum taten sie das? Wahrscheinlich, vermutet Mina, ist das Genre an sich politisch. Bei ihr ist zudem starker Feminismus im Spiel. Annies Misere: "Als ich dich kennengelernt habe, hatte ich einen Beruf. Ich hatte Ziele und Selbstachtung und einen Abschluss ... Du hast mich kleingemacht. Du hast mich auf die dumme Tussi reduziert, die für dich putzt und deine Klamotten wäscht." Bei einer Parteisitzung machen die Frauen - und besonders Kennys Gegenkandidatin - freilich keinen guten Eindruck, da ist von Genderwahn die Rede oder von Lesben-Gestapo.

Der neue Vater bringt die Beziehungen durcheinander

Mit einer Übertragung setzt der Roman ein, ein Junge wird von einem Mann in die Obhut eines anderen Mannes geschoben. Ein Überfall auf ein Postamt, Martin Pavel, 21 Jahre alt, steht in der Schlange. Als der Täter den Raum betritt mit seiner AK-47-Pistole, reagiert der alte Mann vor Martin, der Großvater des Jungen, merkwürdig. Tritt zwei Schritte weg von dem Jungen, raunt Martin zu: "Er gehört zu dir". Dann tritt er auf den Täter zu, hilft ihm, wird an der Tür von diesem erschossen. Brendan, ein alter aufrechter Gewerkschaftler, Kommunist, Labour Mann. Das Gegenbild zu Kenny Gallagher. Oder hat auch er Verbindungen zur Kriminalität in Glasgow?

Der neue "Vater", Martin, steht außerhalb, ein Wanderer, ein Asozialer, ein Heimatloser. Ein Heiland. Er bringt die traditionellen Regeln und Beziehungen und Abfolgen durcheinander. Geboren in Glasgow, aufgewachsen in San Francisco, er hat eine riesige Summe geerbt von seinem Großvater, die Generation dazwischen wurde übergangen und muss sich nun von Martin aushalten lassen. Er lebt in einem der verschachtelten alten Herrenhäuser der Stadt, nutzt gerade mal drei Zimmer. Das Leben ist eine Erzählung, sagt er an einer Stelle, sein Leben trägt er auf den Körper tätowiert, so dass man es nicht leugnen kann. Eins der Tattoos: Gods and beasts, nach Aristoteles. "Die nicht in Gemeinschaft leben oder ihrer nicht bedürfen, sind entweder Götter oder Tiere." Aber das Wort beast, klärt Morrow Martin auf, bezeichne in Glasgow einen Pädophilen, einen, der Kinder missbraucht. In Martin gewinnt der Roman den Glanz eines sanften utopischen Somnambulismus. Er nähert sich Rosie an, der Mutter des übergebenen Jungen, und deren Mutter Rita, Brendans Frau. Er will sie rausholen aus der Geschichte Glasgows.

Bei Denise Mina wird der Krimi zum Familienroman, es wimmelt von Stiefeltern und Halbgeschwistern, ganz Glasgow scheint eine Familie zu sein. Selbst Alex Morrow hat einen Halbbruder, Danny McGrath, der als Geldwäscher für die Drogenbanden arbeitet und, ja, auch für Kenny Gallagher. Am Tag der Klassenverräter-Schlagzeile schickt er Kenny eine SMS. "Er kannte keine Rechtschreibung und schrieb immer von einer unbekannten Nummer. Drekspak. Wenich was tun kan gib laut. McG." Auf seine Loyalität, seine brutale Loyalität wird Verlass sein.

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Quelle:
SZ vom 29.10.2020
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