Kolumne "Nichts Neues":Aber bitte mit Luciane

Wahlverwandtschaften
(Foto: Diogenes/SZ-Grafik)

Über die beste Nebenrolle in Goethes "Wahlverwandtschaften".

Von Johanna Adorján

Um mal mit der Moral von dieser Geschichte anzufangen, die zu Beginn klingt, als würde ein heutiges Paar Ende 30 darüber nachdenken, ob es sich nicht in eine offene Beziehung verwandeln soll: Achtung, ein solches Unterfangen kann böse enden.

Ohne herummäkeln zu wollen, sei die Bemerkung erlaubt, dass die Dramaturgie dieses Romans etwas willkürlich wirkt. Dauernd gibt es neue Bauvorhaben, die in Haus und Garten verwirklicht werden sollen, ständig tauchen neue Gäste auf, die mal mehr, mal überhaupt gar nichts zur Handlung beitragen. Zweimal fallen Kinder ins Wasser und ertrinken, beziehungsweise eines der beiden kann wohl noch gerettet werden, aber das interessiert Goethe dann schon gar nicht mehr. Dafür aber steht in diesem berühmten Roman mit dem noch berühmteren Titel zum Beispiel der wunderschöne, auch heute noch gültige Rat für schriftliche Kommunikation: "Und doch ist es in manchen Fällen notwendig und freundlich, lieber nichts zu schreiben als nicht zu schreiben." Das finde ich auch immer, wenn mal wieder jemand auf eine Textnachricht oder Mail einfach überhaupt nicht reagiert.

Und es gibt eine hinreißende Figur, die der Autor so plötzlich im hinteren Drittel auftauchen, einen Riesenradau veranstalten und wieder abziehen lässt, dass man als Leser gar nicht weiß, wie einem geschieht und was das eigentlich soll. Hundertpro hat Goethe da einfach eine Person beschrieben, die ihn damals, 1808/1809, gerade kolossal nervte: Es ist eine junge Frau namens Luciane, die klingt, als sei sie direkt aus einem Sofia-Coppola-Film in diese Geschichte gefallen (oder andersherum). Gefallsüchtig, hübsch und verwöhnt, zieht sie sich mehrmals am Tag um und überrascht ihre Gefolgschaft mit ständig neuen Ideen für Spiele oder sonstige Vergnügungen. Es scheint ihre größte Angst zu sein, stillzustehen und sich zu langweilen, also tut sie es einfach nicht und bringt ein Mordstempo in dieses sonst in gemäßigtem Tempo voranschreitende Buch. Als sie nach wenigen Seiten wieder abgereist ist und mit ihr ihre laute Entourage, kommt einem der Rest der Geschichte auf einmal sehr, sehr lange vor.

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