Goethe-Medaillen 2022:Wenn der Staat bis in die Betten hinein regiert

Lesezeit: 3 Min.

Streiterinnen für Diversität, Inklusion und Genderthemen: Nimi Ravindran (links) und Shiva Pathak gründeten im südindischen Bangalore 2013 das Sandbox Collective. (Foto: Christine Dössel)

Das indische Sandbox Collective widersetzt sich staatlicher Repression. Dafür bekam es in Weimar die Goethe-Medaille.

Von Christine Dössel

Zwei Männer und ein Bett, mehr ist das nicht. Das Bett ist sogar nur ein Bettgestell. Keine Federn, keine Kissen. Geflochtenes Hanfseil ersetzt den Lattenrost. Die beiden Männer sind ein Paar - oder werden es gerade. Die Zuschauer sitzen mit ihnen im Schlafzimmer, heißt: ganz nahe um dieses Bett herum. In den nächsten 50 Minuten (und dann weiter in Dauerschleife) werden die beiden Männer, zwei Inder, sich in tänzerisch-erotischer Choreografie näher- und nahekommen. Sehr nahe. Ganz ohne Worte. Sie werden sich begehren und umschleichen, werden sich an den Fingern berühren, an den Armen ziehen, am ganzen Körper liebkosen. Sie werden sich bis auf die Unterhosen ausziehen, werden sich bespringen und verknäueln, hinlegen, ausruhen, wieder aufstehen. Und, ja, sie werden Sex haben, zumindest werden sie das in ihren Bewegungen explizit andeuten und damit das Publikum zu Voyeuren intimster Vorgänge machen.

Spiel mit Voyeurismus, Homosexualität und Zensur: Lalit Khatana und Parinay Mehra in der stummen Choreografie "Queen-Size". (Foto: Hari Adivarekar)

"Queen-Size" heißt dieses Stück des indischen Choreografen und queeren Aktivisten Mandeep Raikhy, in dem er das Schlafzimmer-Private als politische Sache öffentlich macht: Weil es alle angeht, wenn der Staat bis in die Betten hinein regiert und etwa die gleichgeschlechtliche Liebe kriminalisiert. Das Stück ist 2016 aus Protest gegen den noch aus der britischen Kolonialzeit stammenden Paragrafen 377 des indischen Strafgesetzbuches entstanden, der sexuelle Aktivitäten "gegen die Ordnung der Natur" unter Strafe stellte. Zwar wurde dieses Gesetz 2018 gekippt, doch Homosexualität wird in Indien nach wie vor tabuisiert. Ein Fall für Nimi Ravindran und Shiva Pathak vom Sandbox Collective, die im südindischen Bangalore immer wieder kritische Debatten anstoßen, Räume für Kunst und Dialog schaffen und sich die Beförderung von Geschlechterthemen, Inklusion und Diversität auf die Fahnen geschrieben haben. Die beiden energischen Frauen - sie sind Theatermacherinnen, Publizistinnen, Schauspielerinnen, Kuratorinnen und Initiatorinnen eines Gender Bender Festivals in Bangalore - haben das Stück "Queen-Size" produziert. So wie viele andere Stücke, die sich mit Gender, Gleichstellung und Sexualität beschäftigen. Sie wurden dafür nun in Weimar mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet, dem offiziellen Ehrenzeichen der Bundesrepublik Deutschland, seit 1955 jährlich verliehen vom Goethe-Institut an Menschen, die sich in besonderer Weise für den internationalen Kulturaustausch oder die Vermittlung der deutschen Sprache einsetzen.

Die Goethe-Medaille ist der wichtigste Preis der auswärtigen Kulturpolitik Deutschlands. Zum Beweis dafür, dass ihr diese trotz akuter Kriegs- und Klimasorgen ein Anliegen ist, nahm auch die grüne Außenministerin Annalena Baerbock an der Verleihung teil. Diese findet traditionell an Goethes Geburtstag in Weimar statt, seit einigen Jahren eingebettet in das dortige Kunstfest. Was Sinn macht, weil die Veranstaltung dadurch einen künstlerischen Rahmen und einen Festivalcharakter erhält und Kunstfest-Programme mit den Preisträgern möglich sind. Ausgezeichnet wurden neben dem Sandbox Collective der ägyptische Maler und Multimediakünstler Mohamed Abla (SZ-Porträt hier) und die in Israel geborene, seit 1985 in Südafrika lebende Historikerin Tali Nates, Gründerin und Direktorin des Holocaust & Genocide Centre in Johannesburg. Dieses Zentrum ist ein Ort der Erinnerung und der Bildung und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte des Genozids im 20. Jahrhundert, speziell mit dem Holocaust und dem Völkermord in Ruanda von 1994.

Außenministerin Annalena Baerbock (links) im Gespräch mit den Preisträgerinnen Tali Nates (Mitte), Mohamed Abla und den beiden Künstlerinnen und Produzentinnen Nimi Ravindran und Shiva Pathak (r.) vom Sandbox Collective. (Foto: Christine Dössel)

Eine Preisverleihung, die zweieinhalb Stunden dauert und eine Rede an die andere reiht, ist natürlich viel zu lang. Andererseits auch wieder nicht, wenn die Geehrten so leuchtende Persönlichkeiten sind wie in diesem Fall, sodass etwas von ihrem Engagement, ihrer Leidenschaft und ihrem Mut abstrahlt in den Raum. Wie der verschmitzte Mohamed Abla die Zeit der Revolution auf dem Tahrir-Platz künstlerisch begleitete, wie sich das Granaten-Duo Nimi Ravindran und Shiva Pathak im nationalistischen Indien für marginalisierte Gruppen starkmacht, das ist subversiv und alles andere als gratismutig. Diese Menschen gehen in repressiven Systemen Risiken ein für ihre Arbeit, für die Kunst - und sind umso bewunderungswürdiger, als sie sich erstaunlich viel Humor bewahrt haben. Auch Tali Nates, Tochter von Holocaust-Überlebenden (ihr Vater stand auf Schindlers Liste), ist in ihrer Rede bewegend, wenn sie in Anbetracht der schmerzvollen Vergangenheit auf eine "gerechtere Gegenwart und Zukunft" hofft. (Die Filmporträts der Preisträgerinnen, hergestellt von der Deutschen Welle, finden sich auf dem Youtube-Kanal des Goethe-Instituts.)

In der Begegnung mit diesen Persönlichkeiten glaubt man tatsächlich an Kultur als "Kraft, die Gesellschaft verändern kann", wie Baerbock es in ihrer Rede formulierte. "Kultur schützt Gesellschaften davor, statisch zu werden", hieß es darin. Überhaupt war das eine starke, den Preisträgern persönlich zugewandte Rede, die es schaffte, neben dem Ukraine-Krieg auch noch die Windräder, den Frauenanteil in Leitungsfunktionen und die 1989er-Revolution der Ostdeutschen relevant unterzubringen. Wer immer das geschrieben hat: Chapeau! Baerbocks empathische Art des Vortrags (inklusive Appell an Mutterherzen) tat ein Übriges. Es war, in bewusster Setzung gegen Putins Krieg, ein Statement für Freiheit, Kunst und Kultur, für "unsere Werte", die "vielfältig sind". Eine Bestärkung auch der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Dass die Mittel des Goethe-Instituts in diesem Jahr um 24,5 Millionen Euro gekürzt wurden, also um etwa zehn Prozent, und für nächstes Jahr noch höhere Kürzungen anstehen, passt da allerdings nicht so gut dazu.

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