Kulturpolitik:In diesem Reich geht die Sonne nicht unter

Kulturpolitik: "Können Herzen singen": Deutschunterricht im Sprachlabor am Goethe-Institut in München, im Jahr 1984.

"Können Herzen singen": Deutschunterricht im Sprachlabor am Goethe-Institut in München, im Jahr 1984.

(Foto: Michael Friedel/Goethe-Institut)

Das andere Deutschland, das die Welt erobern sollte: Goethe wurde vor 70 Jahren ein Institut.

Von Willi Winkler

Dem Anfang wohnte ein grausiger Zauber inne. Der Historiker Friedrich Meinecke wünschte sich nach der "deutschen Katastrophe" Heilung durch Dichtung und deshalb durch Goethe. "In jeder deutschen Stadt und größeren Ortschaft wünschen wir uns also künftig eine Gemeinschaft gleichgerichteter Kulturfreunde, die ich am liebsten 'Goethegemeinde' nennen möchte."

Meinecke wollte "die lebendigsten Zeugnisse des großen deutschen Geistes durch den Klang der Stimme den Hörern ins Herz" tragen. "Tiefsinnige Gedankendichtung von der Art der Goetheschen und Schillerschen sind vielleicht das Deutscheste vom Deutschen in unserem gesamten Schrifttum. Wer sich ganz in sie versenkt, wird in allem Unglück unseres Vaterlandes und inmitten der Zerstörung etwas Unzerstörbares, einen deutschen character indelebilis spüren." Ein schönes, ein Programm ganz auf der Höhe der Zeit unmittelbar nach dem verlorenen Krieg: statt Zerstörung Versenkung und ganz viel Tiefsinn gegen das Unglück der bewussten Katastrophe, über deren Ursachen dann doch lieber geschwiegen wurde.

1949 jährte sich Goethes Geburtstag zum 200. Mal, was schon im Aufgalopp zu extremen Reue- und Bußübungen führte. Um eine Restauration der alten Verhältnisse zu verhindern, forderte Walter Dirks, das zerbombte Goethe'sche Geburtshaus in Frankfurt gar nicht erst wieder aufzubauen. "Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald", mahnte der Germanist Richard Alewyn. Es wurde unendlich viel von Besinnung, Erneuerung, Umkehr, Verantwortung und Einkehr geraunt. Thomas Mann ließ sich im Jubiläumsjahr in Weimar und in Frankfurt als Wiedergänger des Dichterfürsten feiern. Im Osten ernannte der Staatsdichter Johannes R. Becher Goethe zum "Befreier" und wollte die DDR in ein Reich, "das Goethe heißt", führen. Der Philosoph Karl Jaspers immerhin erzürnte die weltversöhnungsselige Goethe-Gemeinde, indem er Goethe zitierte: "Meine Sachen können nicht populär werden (...). Sie sind nicht für die Masse geschrieben, - sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen."

Ursprünglich sollten nur Deutschlehrer ausgebildet werden

Es waren sicherlich nur gute Menschen, die sich im August vor siebzig Jahren zusammenfanden, um im Namen Goethes ein bis heute bestehendes Institut zu gründen. Ursprünglich sollten damit in der Bundesrepublik ausländische Deutschlehrer ausgebildet werden. Erst Ende der Sechzigerjahre wurde daraus ein umfassendes Kulturunternehmen mit Niederlassungen in den meisten Ländern der Erde. In Goethes Reich geht die Sonne nicht mehr unter.

Kulturpolitik: Sprachschülerinnen vor dem Goethe-Institut im damaligen Bombay (heute Mumbai), 1973.

Sprachschülerinnen vor dem Goethe-Institut im damaligen Bombay (heute Mumbai), 1973.

(Foto: Michael Friedel/Goethe-Institut)

Zum Glück wurde es aber nichts mit den heimischen Goethe-Gemeinden, auch nicht mit Andachtsecken, Singkreisen und Lesezirkeln, die sich in Goethes Namen in Nueva Germania im Elisabeth-Förster-Nietzsche-Staat Paraguay, im texanischen Fredericksburg oder an einem Strand im ehemaligen Bismarck-Archipel versammelt hätten. Was hätten die Trostbedürftigen auch lesen sollen, wenn sie beim Hausvater Goethe Einkehr hielten? Dass er nichts mehr hasste als Christus? "Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider; / Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und †" ("Venezianische Epigramme", 66). Oder dass er "Christe", wenn er ihn nicht mit dem Kreuzzeichen verdeckte, auf jenen unaussprechlichen "Iste" reimte, seinen allerbesten und -nächsten Freund, den er so lieb hatte, dass er ihm sogar noch nach einem akuten Fall von Impotenz ein Gedicht widmen konnte. Ganz zu schweigen von diesem ominösen "Heidenröslein", das tatsächlich auf der ganzen Welt bis ins innerste Kirgisistan gesungen wird, aber doch avant le dirty word von nichts anderem als übelstem Missbrauch handelt, wie einen jeder Einführungskurs in die Psychoanalyse lehren kann. Der Exportschlager Faust, gedankenvoll und tatenarm, wie es sich für einen Deutschen gehört, schnürt ununterbrochen dem Weiblichen in jeder Gestalt hinterher, ganz gleich, ob's eine bürgerliche Gretel oder eine mythologische Helena ist, und geht in seiner midlife crisis mühelos über Leichen. Ein Horror.

Noch mal: Zum Glück hat das Goethe-Institut mit diesem Goethe nichts zu tun. Doch kann es einem als deutschen Touristen in Lissabon ohne Weiteres passieren, dass man von Einheimischen ohne Vorwarnung mit einem dreiviertelstündigen Loblied auf die Filme von Rudolf Thome regaliert wird, die der neu erworbene portugiesische Freund in einer Werkreihe im Goethe-Institut in der Außenstelle Coimbra gesehen hat. (Es war, das nur nebenbei für die Literaturgeschichtsschreiber, jene Niederlassung in Lissabon, die damals der Übersetzer Curt Meyer-Clason leitete, als der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard dort 1976 mit großem Erfolg las, während er gleichzeitig vom österreichischen Botschafter, der der Lesung selbstverständlich ferngeblieben war, als "destruktiver, schrecklicher Kerl" denunziert wurde. Bernhard replizierte mit einem Kompliment für die gastgebende Nachbarnation: "Die Rechnung für die Unmöglichkeit, um nicht sagen zu müssen Dummheit und Gemeinheit der Österreicher, war in das Gelächter der Deutschen umgeschlagen, wie so oft.")

In aller Welt kann man unsere Sprache lernen - oder den Film "Bierkampf" schauen

So bescheiden die Zuschauerzahlen für deutsche Filme im deutschen Kino sind, sie entfalten seit den Siebzigerjahren eine weltweite Wirkung, wenn sie auf Tournee nach Brasilien, Indien und auf die Philippinen gehen. Gründlichere Deutschkenntnisse dürften sich bei einer Weltbevölkerung von mehr als sieben Milliarden nunmehr im Mikroprozentbereich bewegen, und noch ein paar weniger werden des Bayerischen wenigstens passiv mächtig sein, doch die gespielte Exzesslust, die Herbert Achternbusch, Josef Bierbichler und Heinz Braun in dem Film "Bierkampf" entfalten, wird sich auch Ethnien mitteilen, die das Oktoberfest nur von einer Bierreklame kennen.

Auf seiner Tournee begegnete Achternbusch in San Francisco auch Wim Wenders, der gerade von Francis Ford Coppola mit "Hammett" geknechtet wurde, aber auch Wenders ist weltbekannt geworden durch Goethe, mit dem ihn immerhin verbindet, dass er nach einem Drehbuch Peter Handkes eine Art Verfilmung von "Wilhelm Meisters Lehrjahren" versucht hat.

Ungezählte Dichter, Schriftsteller, Maler, Musiker beiderlei Geschlechts sind auf die Reise geschickt worden und trafen - das ist das Wunderbare an diesem angewandten Goethe-Kultus - in sieben Jahrzehnten auf ein immer wieder neugieriges Publikum, das deutsche Kultur wie Götterspeise und Geistesnahrung in einem zu sich nahm. Gelegentliche Missgriffe waren unvermeidlich, etwa dass Hans Egon Holthusen, der sich 1949 noch als Thomas-Mann-Feind zeigte, trotz seiner vorangegangenen Mitgliedschaft in der SS, der er sich beizeiten ausgiebig rühmte, Programmleiter des Goethe House in New York wurde und dort Exilanten einlud, die wegen seinesgleichen aus Deutschland geflohen waren.

Die neue Bibliothek des Goethe-Instituts Athen, 2020

Schön kühl: Die neue Bibliothek des Goethe-Instituts in Athen.

(Foto: Thalia Galanopoulou/Goethe-Institut)

Die goldenen Zeiten, als ein amerikanischer Germanistikprofessor seinen Studenten empfahl, Deutsch zu lernen, damit sie die "Letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus und H. C. Artmanns frühe Gedichte "med ana schwoazzn dintn" in ihrer ganzen Fülle verstünden, sind leider vorbei. Das Interesse an deutscher Kultur ist aber keineswegs erloschen.

"Rammstein" und das Heidenröslein

Es ist nur zu begrüßen, wenn auf Kosten der deutschen Steuerzahler immer noch ein paar Menschen auf der Welt Deutsch lernen, obwohl damit kaum eine Schnitte zu machen ist. Bei der weltweiten Ausstrahlung sind die paar Euro, die das Außenministerium für dieses Bildungsprogramm zur Verfügung stellt, eine erheblich bessere Investition als noch jedes Prestigeprojekt des Entwicklungshilfeministeriums. Das Ministerium heißt natürlich schon lange nicht mehr so, denn die Entwicklungshilfe für Deutschland leistet das Goethe-Institut.

Goethe verabscheute wie kaum jemand sonst den deutschen Nationalismus und sprach als Erster von Weltliteratur. Auf die seltsamste Art hat sich sein Wunsch erfüllt. Die ganzen Sprachkurse, die ganzen Auslandsreisen, dieser geballte Kulturexport zeigt Wirkung an ungeahnten Orten. Wenn bei einem Konzert von Rammstein in Mexico City zehntausend Mexikaner im Chor und vor allem auf Deutsch mitsingen, was der Abrissunternehmer Till Lindemann ihnen von der Bühne herunter durch den Klang seiner Stimme ins Herz trägt, dann müssten sogar Friedrich Meinecke, und nicht nur wegen der Pyrotechnik, die Tränen in die Augen steigen. "Können Herzen singen? Kann ein Herz zerspringen? Können Herzen rein sein? Kann ein Herz aus Stein sein?" Das ist die "Goethegemeinde" in ihrer reinsten Form, und das Heidenröslein zieht verschämt seine Blätter zusammen.

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