Goethe wird mit "von" geschrieben, man weiß, dass er Minister war und im öffentlichen Verkehr als "Exzellenz" angesprochen wurde. Den jungen Wilden im Vormärz galt er als Fürstenknecht und Freund der Despotie. Und es stimmt ja: Die Pressefreiheit beunruhigte ihn, weil er in ihr schon jene Enthemmung vorausahnte, die wir heute in den Sozialen Medien erleben. Aber ein hochmütiger Aristokrat war er nicht. In seinen amtlichen Funktionen war Goethe Personalverantwortlicher, wie man es heute nennen würde, für eine ganze Kohorte von Bibliotheksdienern, Sekretären, Schauspielerinnen und Sängern. In seinem Haus gab es Diener, Schreibkräfte und Köchinnen, und um alle hat Goethe sich sorgfältig gekümmert; schon die Sammlung seiner Empfehlungsschreiben würde einen eigenen Band füllen.
Vor zweihundert Jahren, 1822, fand Goethe die Zeit, einem seiner Untergebenen einen großen literarischen Auftritt zu verschaffen. Johann Christoph Sachse, damals sechzig Jahre alt, war seit 1800 Diener in der Weimarer Bibliothek, die Goethe intensiv nutzte, der Kontakt war dicht. Sachse hatte vor 1800 sein Leben erst mit bäuerlicher Kinderarbeit, dann in wechselnden Stellungen als Diener in adeligen und großbürgerlichen Haushalten gefristet und war dabei weit in Deutschland herumgekommen.
Sachse war ein fleißiger Tagebuchschreiber, was Goethe immer gefiel, und so machte er aus seinen frühen Wanderjahren ein Buch. Es ist voll von kuriosen Abenteuern und zugleich von sozialer Wirklichkeit. Man lernt Deutschland um 1780 von unten kennen. Die kleinen Leute werden durchs Alte Reich geschleudert, denn soziale Sicherheit gibt es nicht. Die Obrigkeiten können ihr Personal beim kleinsten Widerspruch an die Luft setzen. Oft lockt in der nächsten Stadt ein besserer Herr. Das zeigt Sachses Bericht in buntester Fülle, und davon war Goethe so begeistert, dass er seinen Verleger Cotta regelrecht nötigte, das Manuskript zu publizieren.
Die feinen Leute müssen sich fragen, was ihre Bediensteten wohl so zu schreiben hätten
Und so erschien bei Cotta, dem Suhrkamp-Verlag der deutschen Klassik, dem Verlag von Goethe, Schiller, Hölderlin und vielen anderen "Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers" samt einem Vorwort von Goethe. Dieses Vorwort und andere rühmende Hinweise nahm Goethe auch in seine Zeitschrift "Über Kunst und Alterthum" auf, er rührte die Trommel für den Diener auf jede ihm mögliche Weise. Der von Goethe gesetzte Titel spielt auf ein populäres Werk der Weltliteratur an, den seit 1715 erschienenen Schelmenroman von Alain-René Lesage. Im Vorwort griff Goethe noch höher: "Wie man nun aber von keinem Roman, groß oder klein sagen soll, hier sei viel Lärmen um nichts, denn dies könnte man auch von der Ilias behaupten, noch weniger verdient ein Menschenleben verächtlich behandelt zu werden, weil es offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat desselben ankommt, und wir den Geringsten mit Achtung anzusehen haben."
Gil Blas, Homer: Das sind die Bezüge. Dabei wusste Goethe, dass er kein "Kunstwerk", sondern ein "Naturwerk" vorstellte, einen wenig bearbeiteten Ausdruck gelebten Lebens. Hier schwingt immer noch die epochale Entdeckung der Volkspoesie durch Herder nach, die Goethe in seiner Jugend so beeindruckt hatte. Und er ging weiter: Er verschwieg nicht den sperrigen Inhalt von Sachses Autobiografie. Diese nämlich spart nicht mit drastischer Kritik an herrischen Herrschaften, an Baronessen-Willkür, an der habituellen Ungerechtigkeit der höheren Stände. Eine "Bibel der Bedienten" nennt Goethe Sachses Erzählung. Und er empfiehlt sie den "oberen Ständen" zur Erbauung, "besonders, wenn es ihnen auffällt: wie es wohl aussehen möchte, wenn ihre Bedienten auch dergleichen Bekenntnisse schrieben?"
Der aufsässige Sachse hatte sich etwas von der Seele geschrieben. Ein sarkastischer Abschnitt "Dienstbemerkungen" fasst es zusammen: "Da hat z.B. der Bediente bald das Rendezvous zu früh entdeckt, bald den Krepp zu stark gepudert, bald die Stube zu stark oder zu schwach geheizt, bald das Bett nicht gut gemacht oder den Pot de chambre nicht recht gesetzt, bald zu früh oder zu spät geweckt, bald die Stiefel und Kleider nicht gut genug geputzt und dergleichen Vorwürfe mehr, welche manchmal nur aus der Luft gegriffen sind." Die Liste geht lange weiter, denn nie kann man es den Herrschaften recht machen.
Diese Bibel des Prekariats wurde ein so großer Erfolg, dass der alte Sachse genügend einnahm, um für sich und einen kranken Sohn einen Kuraufenthalt in den böhmischen Bädern zu planen - an Orten, die damals von der europäischen Hocharistokratie frequentiert wurden. Der Bibliotheksdiener eiferte seinem großen Chef nach. Doch die in brütender Hitze mit eigener Kutsche unternommene Reise überanstrengte ihn so, dass er kurz nach der Ankunft in Teplitz an einem Fieber verstarb. In Briefen an Freunde nannte Goethe diese Wendung tragisch. Öffentlich schrieb er Sachse einen Nachruf, der dessen letzte Reise minutiös nacherzählte. "Nun ruhen seine Beine zu Füßen des berühmten Wanderers Seume" - übrigens bis heute.