Süddeutsche Zeitung

"Glücklich die Glücklichen" von Yasmina Reza:Streit an der Käsetheke

Auf dem Schlachtfeld der kleinen Alltagsprobleme: In ihrem neuen Roman "Glücklich die Glücklichen" lässt Yasmina Reza alle Lebensweisheiten platzen.

Von Joseph Hanimann

Man könnte es eine demokratische Erzählform nennen. Jede Person hat in diesem Buch das Recht auf ein eigenes Kapitel, unter dem Titel ihres Eigennamens. Der Erzähler als übergeordnete Instanz ist abgeschafft. Die Figuren teilen sich uns direkt in einer absoluten Gegenwart mit, die mal früher, mal später im Zeithorizont der Ereignisse liegen kann. Aus diesem mehrstimmigen Gemurmel klingen Yasmina Rezas große Themen an: Heldentum auf dem Schlachtfeld der kleinen Alltagsprobleme, Wieder- und Wiederbeatmung erstickter Glückserwartung, Lebensfreude durch Schadenfreude, Empfindungsdrall hin zur Verzweiflung, Sog zu diffusen Jenseitsgefühlen, Witz und aufschäumende Egozentrik.

Die Autorin hat dieses Verfahren des fliegenden Perspektivenwechsels schon mehrmals angewandt, zuletzt in ihrem jüngsten Stück "Ihre Version des Spiels". Das Risiko ist dabei, dass die Sache durch die Zentrifugalkraft immer neuer Aspekte ihr Gravitationszentrum verliert. Das ist in diesem Buch stellenweise der Fall. Was mit drei oder vier Figuren gelingt, gerät mit achtzehn leicht auf die Fluchtbahn der Beliebigkeit.

Wohl findet man vorab bei den drei Personen dieses Romans, die gegenüber den anderen im Vordergrund stehen und Anrecht auf mehr als ein Kapitel haben, den unwiderstehlich abgründigen Humor Yasmina Rezas. Robert Toscano, ein etwas gestresster Journalist, der mit seiner Frau Odile einen vollgetürmten Einkaufswagen durch den Supermarkt schiebt, macht im Gedränge plötzlich eine Lebenserfahrung: "Ist das der richtige Ort für einen Mann?"

Er zählt bis drei

Die Frage drängt sich umso mehr auf, als Robert nach langem Warten vor dem Käsestand aus unerfindlichen Gründen einen Morbier statt eines Schweizerkäses gekauft hat, den allein die Kinder zu Hause zu essen bereit sind.

Der offene Streit mit der durch Beruf, Ehe, Kinder und neuen Liebhaber ebenfalls etwas strapazierten Odile im Neonlicht zwischen Großpackungen ist unausweichlich. Schluss jetzt! Er zähle bis drei - droht der Mann erfolglos und ahnt schon, dass zwischen diesem "Ich zähle bis drei, Odile" und dem "Heute Abend essen wir was Schönes, mein Herz", mit dem ein befreundetes Paar sich täglich neu umgarnt, wohl gar kein so großer Unterschied besteht.

In beiden Fällen geht es um eine Art Wesensverengung, damit man die Zweisamkeit besser erträgt. Yasmina Reza weiß die Reibereien zwischen Frauen und Männern, Eltern und Kindern, unter Kollegen und Freunden im gehobenen Milieu der Journalisten und Ärzte, Künstler und Ingenieure in allen Registern von Komik und Bitterkeit brillant durchzuspielen. "Perücke, Perücke, nicht sicher, keine Perücke . . . " zählt eine Dame im Wartsaal vor ihrer neuen Chemotherapie halblaut die Mitwartenden durch und begehrt dann auf, sie wolle nicht als Glatzkopf sterben wie die damals in Auschwitz.

Leider war ihr Vater immer schon eine Niete

Ein anderer Protagonist des Buchs, der auch nicht mehr so viel Lebenszeit vor sich hat, schlägt sich mit der Unschlüssigkeit herum, wo er seine Asche verstreut haben will. Yasmina Rezas Figuren stoßen auch immer wieder an Jenseitsschwellen. Beim Gedanken an den Himmel wendet eine von ihnen sich mit ihren Wünschen spontan an ihren verstorbenen Vater, denn nie käme sie auf die Idee, mit Gott sprechen zu wollen - "ich war immer der Ansicht, dass man Gott nicht stören darf".

Leider war ihr Vater immer schon eine Niete, und es ist für sie nervend, dass er auch im Himmel so wenig erreicht. Für Aufgeklärte ist der Himmel ein Empfangsschalter für Frustration. Elegant werden im Roman die großen Lebensfragen durcheinandergeschlagen, bis alle Lebensweisheiten geplatzt sind. Denn dafür wären Rezas Figuren viel zu intelligent.

Wenn der Arzt, den manche von ihnen mit ihren Problemen aufsuchen, in seiner Einsamkeit gern auch einmal die Liebe kennenlernen würde, statt im Stadtwald junge Männer aufzureißen, träumt er nicht von Vereinigung, Idylle oder sonstigem sentimentalen Glück. Er träumt vielmehr von einer bestimmten Art Traurigkeit, die zur Liebe gehört und die er in Becketts "Glückliche Tage" oder in Rilkes "Duineser Elegien" fand, die ein Patient ihm schenkte. Doch laufen die Lebensgeschichten der insgesamt achtzehn Figuren in diesem Roman weit auseinander, obwohl sie auch familiär, beruflich, freundschaftlich oder amourös miteinander verbunden sind und am Schluss bei einer Beerdigung fast vollzählig zusammenkommen.

Dem Chor der kleinlaut Glücklichen, für die Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel auch im Deutschen den richtigen Ton fanden, fehlt ein Orgelpunkt, der nach der Lektüre im Kopf weiterklingt.

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SZ vom 06.02.2014/ihe
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