"Globalgeschichte einer Nation":Immer diese Zufriedenheit

Käfer als Denkmal deutsch-deutscher Geschichte

Dier VW-Käfer, der jetzt in einem Garten in Fuldatal-Simmershausen steht, soll das erste Auto gewesen sein, dass nach dem Mauerfall vom Osten in den Westen verkauft wurde.

(Foto: dpa)

Von der Himmelsscheibe bis Corona: Ein bunter Strauß historischer Miniaturen informiert über die Globalgeschichte Deutschlands. Aber was soll hier eigentlich demonstriert werden?

Von Ilko-Sascha Kowalczuk

Das ist leider kein Prachtband geworden. Die Typografie entspricht der viel gerühmten C.-H.-Beck-Kultur, das Papier und der Einband ebenso. Den Schutzumschlag ziert ein hippiesk gestalteter VW-Käfer. Auch bei näherer Betrachtung ist nicht zu erkennen, dass das vielleicht berühmteste Exportmodell Deutschlands - der VW-Käfer mit weltweit 21,5 Millionen verkauften Exemplaren - hier von acht mexikanischen Künstlerinnen und Künstlern mit acht Millionen Glasperlen eindrücklich gestaltet worden ist. Leider ist das nicht nur am Cover zu bemängeln. Dem opulenten Band fehlen Bilder, Grafiken, Karten, Illustrationen auf ansprechendem Papier, um aus ihm einen bemerkenswerten, einen die Sinne ansprechenden Prachtband werden zu lassen. Platz wäre genug vorhanden gewesen, wovon viele halb leere Seiten zeugen.

172 Autorinnen und Autoren haben in 177 Artikeln ein Buch erstellt, das sich einer eindeutigen Zuordnung und Bewertung entzieht. Der Herausgeber versucht, in seiner Einleitung zu erklären, was die "Globalgeschichte einer Nation" sein soll. Weder "Deutschland" noch "Globalgeschichte" noch "Nation" - allesamt historisch umstrittene Begriffe - führt er für die Leser so ein, dass sie erahnen können, was sie im Folgenden erwartet. Das Buch setzt mit einem Eintrag "400 000 v. Chr." ein und endet mit der Geschichte des Berliner Flughafens unter dem schönen Titel: "Wegen Eröffnung auf Dauer geschlossen".

Wann auch immer die Geschichte Deutschlands begonnen haben mag - vor Christus ist dann doch etwas sehr verwegen. Insofern hätte eine Begriffsbestimmung nicht nur für die ersten Lemmata durch den Herausgeber gutgetan. Ihn scheint das Buchkonzept selbst nicht so richtig zu überzeugen. Jedenfalls begründet er es nicht zuletzt damit, dass es solche Bücher auch für Sizilien, Italien, Katalonien, Frankreich oder Spanien gibt.

Rassismus und Sexismus, zwei machttechniken, bleiben ärgerlicherweise unterbelichtet

Die Beiträge sind jeweils etwa fünf Seiten lang und umfassen viele Aspekte der deutschen Geschichte. Ein Drittel der Artikel behandelt die Zeit bis 1789, die anderen zwei Drittel die letzten 230 Jahre. Das deutet auch an, dass die Zeitsprünge immer knapper werden, je näher die Themen an unsere Gegenwart heranrücken. Fast alle Beiträge sind informativ, dicht geschrieben, manche sogar unterhaltsam. Neben Erwartbarem finden sich auch Beiträge aus der Kultur- und Geistesgeschichte, die das Hineinblättern wirklich lohnend machen und so letztlich allen gewinnbringende Kenntnisse vermitteln.

Behandelt werden, um einen kleinen Einblick zu schaffen, zum Beispiel die Himmelsscheibe von Nebra, die Varusschlacht, Trier, Köln, das Lehnswesen, Karl der Große, der erste Kreuzzug, die Hanse, Staufferkönig Friedrich II., die Gotik, die Universität Prag, das "deutsche" Schießpulver, die Fugger, Johannes Gutenberg, Albrecht Dürer, Nikolaus Kopernikus und Johannes Kepler, der Dreißigjährige Krieg, Moses Mendelssohn, Ludwig van Beethoven, die Brüder Humboldt, das Kommunistische Manifest, Schloss Neuschwanstein, Rudolf Steiner, Friedrich Nietzsche, Carl Peters, Theodor Mommsen, Max Weber, Hitler und Wagner, das Oktoberfest, Albert Schweitzer, die Spanische Grippe, die NSDAP, der Versailler Vertrag, die Frankfurter Schule, Bertolt Brecht, Auschwitz, die Nürnberger Prozesse, das Grundgesetz, Daniel Cohn-Bendit, Brandts Kniefall, Boris Becker und Steffi Graf, der Euro, MP3, Jürgen Habermas, Denglisch, NSU und auch Corona.

Dieses Potpourri ergibt einen bunten Strauß historischer Miniaturen. Die Komposition folgt einer chronologischen Anordnung. Insgesamt orientiert sie sich eher an harmonisch-unaufgeregten Walzeransprüchen denn an überraschenden, mit Brüchen und Disharmonien improvisierten Jazz-Künsten. Das Buch spiegelt durchaus bundesdeutsche Realitäten.

So wird etwa der globale VW-Käfer-Mythos gefeiert, ohne auch nur mit einem Wort darauf einzugehen, unter welchen teilweise miserablen Bedingungen das Erfolgsmodell in Brasilien oder Mexiko von den dortigen Arbeitern produziert worden ist oder wie sich VW mit der brasilianischen Diktatur gemein machte. Solche unkritischen Erzählungen sind auch den Beiträgen zum deutschen Kolonialismus zu entnehmen, etwa wenn der Kolonialismus als eine Geschichte ohne die verbrecherische Unterdrückung der Indigenen erzählt wird.

Insgesamt stellt sich die Frage, was der Band eigentlich demonstrieren will. Viele Beiträge lösen den Anspruch nicht ein, das Thema im globalen Zusammenhang darzustellen. Meist läuft es darauf hinaus, dass entweder irgendein deutsches "Produkt" - ob nun der VW-Käfer, der Marxismus oder Einstein - global wirkte oder in Deutschland auf einen internationalen Trend national reagiert wurde. Globalgeschichte im Sinne gegenseitig vernetzter und aufeinander einwirkender Entwicklungen bleibt in diesem Band fast immer auf Europa beschränkt.

Natürlich ließe sich kritisch anmerken, warum jener Beitrag fehlt und dieser überhaupt aufgenommen worden ist. Nur zwei erstaunliche Fehlstellen seien erwähnt. Da wäre zum einen Rassismus. Es ist schon erstaunlich, dass 2020 ein solches Kompendium herauskommt und Deutschland wie selbstverständlich als "weiß" und "christlich" zeichnet. Das Postkoloniale, eine Theorie mit globalen Erklärungsmustern, gibt es hier nicht. Dass Rassismus und Sexismus, immerhin zwei globale und seit Jahrhunderten vitale Machttechniken, unterbelichtet bleiben, ist mehr als ärgerlich.

Ebenso verhält es sich mit dem Kommunismus. Zwar wird die Erfindung des Marxismus gewürdigt, doch das ist zunächst ein historisches Phänomen des 19. Jahrhunderts. Seine Ausprägung hin zum Kommunismus im 20. Jahrhundert wird nicht einmal gestreift. Nun kann man die KPD der Zwanzigerjahre mit guten Gründen als Arm Moskaus ansehen. Aber sie war doch mehr, sie war die wichtigste und größte kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion und sie war ein Orientierungspunkt für die weltweite Bewegung.

Im Zentrum steht das Erfolgsmodell Bundesrepublik, für die DDR ist da wenig Platz

Nach 1945 war die SBZ/DDR natürlich zunächst nur ein Geschöpf Stalins. Aber entbindet das eine deutsche Globalgeschichte automatisch davon, die DDR überhaupt zu berücksichtigen? Es gibt von etwa zwanzig Beiträgen zur Zeit von 1949 bis 1989 genau einen, der die DDR behandelt - und zwar die vietnamesischen Arbeitsmigranten. Selbst die Revolution von 1989 wird lediglich als Ereignis staatspolitischen Handelns abgehakt. Nun kann man einwenden, was hat denn die DDR an global wirkenden Dingen hervorgebracht (das ließe sich freilich auf nicht wenige Lemmata ebenso zurückfragen). Nun, der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 war der erste gegen ein kommunistisches Regime und entfaltete eine Fanalwirkung. Ein Blick in sämtliche Tageszeitungen der Welt im Juni 1953, ob in Asien, Australien, Nordamerika oder Afrika, würde das zeigen. Nichts hat das Unrechtssystem der kommunistischen Diktaturen weltweit so demaskiert und die Empörung darüber so wachgehalten wie die Berliner Mauer, kein anderes blutiges Symbol hat eine solche Wirkung bis in unsere Gegenwart entfaltet. Dazu gehört natürlich auch der Mauerdurchbruch durch die Gesellschaften Osteuropas - ein in der Tat globales Unternehmen. Und was ist mit der Staatssicherheit? Ist sie nicht aufgrund ihrer Effektivität und ihres Umfangs Vorbild Dutzender Geheimpolizeien weltweit gewesen oder womöglich immer noch, zu schweigen von ihrer Ausbildungsunterstützung in anderen Ländern? Was ist mit staatlich betriebenen Dopings im Hochleistungssport? Und ist es wirklich angemessen, die Wirkung der deutschen Literatur seit 1945 auf drei aktuelle Bestsellerautoren zu beschränken? Gerade in die SBZ/DDR aus dem Exil zurückgekehrte Autoren wie Anna Seghers oder Stefan Heym veranschaulichten deren globale Vernetzung und Wirkung. Anhand von Carl Zeiss Jena wiederum ließe sich auch eine Globalwirkung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart unter Einschluss des Kosmos zeichnen.

So unterhaltsam und lehrreich fast jeder einzelnen Beitrag auch ist, das Buch als Ganzes - eine Art Nachschlagewerk für Bessergebildete - symbolisiert ein auch im dreißigsten Jahr der deutschen Einheit dominierendes Deutschlandbild, das ganz gut auskommt ohne das kleine kommunistische Schmuddelkind: In der Realität - zum Glück; in der historischen Forschung - nun ja. Insofern bietet dieses Lesebuch neben vielen kleinen schönen Miniaturen auch Anschauungsmaterial dafür, wie in der aktuellen und tonangebenden Forschung Deutschland und die Bundesrepublik konstruiert werden: als ein seit 1945 westliches Erfolgsprojekt, in dem kein Platz für die DDR ist. Wenn es mit dieser Selbstzufriedenheit den gutwilligen Geschichtskonstrukteuren dereinst bloß nicht so ergeht wie Joachim Löw nach seinem Weltmeistertitel 2014 (den übrigens Gerhard Delling ganz und gar wunderbar seziert). Er glaubte, da er einmal Erfolg gehabt hatte, müsse er nichts mehr ändern. Das ging bekanntlich nicht gut aus.

Andreas Fahrmeir (Hrsg.): Deutschland. Globalgeschichte einer Nation. Verlag C.H. Beck München 2020, 936 Seiten, 39,95 Euro.

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