Unter allen Digitalprodukten, die die Theater und Opernhäuser seit einem Jahr erfinden, rangiert dieses in puncto Außergewöhnlichkeit weit oben. "Glaube, Liebe, Hoffnung" hat nichts mit dem Stück von Horváth zu tun, ist keine abgefilmte Aufführung und auch kein Film. Die Staatsoper Stuttgart nennt ihr Projekt auf ihrer Homepage "virtuelle Ausstellung", aber das passt auch nicht. Eher ist es ein Trip, sehr digital, artifiziell einerseits, andererseits umwerfend und anrührend in dem, was einem hier musikalisch begegnet.
Eigentlich wollte der Regisseur Marco Štorman Schumanns "Szenen aus Goethes Faust" am Opernhaus inszenieren, was der Pandemie ebenso zum Opfer fiel wie die geplante Ersatzlösung, eine Neuproduktion von "Jesus Christ Superstar" von Andrew Lloyd Webber. Štormans seuchenresistenter Ersatz ist nun ein vorösterlicher Parcours durch eine rein digital erzeugte Welt, wie man sie von Computerspielen her kennen mag oder von Experimenten mit VR-Brillen. Alles in dieser Welt ist kaputt, der Mond hängt tief wie in Lars von Triers "Melancholia", die Sonne gleißt, die Erde ist roter Staub oder knirschendes Geröll, aber es gibt auch Vögel und am Ende sprießen Blumen aus der Wüste, doch eine Erlösung verheißt das nicht.
Man stapft also durch diese Welt, hört laut die eigenen Schritte, passiert die Ruine des Opernhauses, schief stehende Hochhäuser und vergessene Standbilder, griechisch oder assyrisch, man kommt sich dann kurz vor wie im Parco dei Mostri im Latium, nur ist das hier keine verwunschene, Raum gewordene Privatphilosophie, sondern eine postapokalyptische Landschaft. Dann erspäht man ein Leuchten, gelangt zu einer Filmleinwand, hineinkopiert in die digitale Welt, ein flimmernder Bildstock. Darin Heidi Heidelberg, britische Vielzweckkünstlerin, die sich selbst als anarchischen Sopran bezeichnet und hier Schuberts "Meine Ruh' ist hin" singt. Und zwar umwerfend schön.
Sieben solche Bildstöcke hat Štorman in der wüsten Gegend verteilt. In ihnen sieht man die jeweiligen Interpreten, die Sängerin oder den Sänger, filmisch inszeniert, und man hört und sieht Nummern aus "Jesus Christ", aus den "Faust-Szenen", das "Erbarme dich" aus Bachs "Matthäuspassion", Musik des Flehens und Vergehens, die auch von Trost und Auferstehung kündet, und die man so noch nie gehört hat. André de Ridder und Marcos Padotzke haben die Stücke für die hauseigene Band der Stuttgarter Oper arrangiert.
Katherine Manley liegt nackt unter einem Skelett und träumt von der Liebe zu Jesus
Diese Band ist tatsächlich eine, heißt JABB (Just another Bluesband), besteht aus Musikern des Staatsorchesters und dem Tenor Matthias Klink. Wenn sich klassische Musiker Pop oder Rock zuwenden, ist oft Skepsis angebracht. Wenn sie sich dann mit den bei diesen Ausflügen gewonnenen Erkenntnissen wieder dem ureigenen Repertoire zuwenden, kann das ganz grundsätzlich schiefgehen. Hier ist es weitgehend zauberhaft.
Frau Heidelberg, die ihre Nummer selbst arrangiert hat, legt zart und zerbrechlich die Süße der Melodie von Gretchens Monolog frei, erfindet sich vor einem Marienaltar selbst als Kunstwesen, changierend zwischen entfliehendem Sehnen und erdnahem, von der E-Gitarre umspielten Jazz. Denis Milo nähert sich mit Schumanns "Hier ist die Aussicht frei" reinem Pop, aber mit E-Gitarre und Holzbläsern. Katherine Manley liegt nackt unter einem Skelett und träumt mit Webbers Musik von der Liebe zu Jesus, ganz spärlich begleitet und deshalb genau richtig für sie - sie hat viel Erfahrung mit Alter Musik. Hilft auch bei Webber. Und Matthias Klink ist ein viriler Jesus, ein Rockstar mit delikater Kopfstimme, der offenbar mit seinem Motorroller einen Unfall gebaut hat und nun sterbend das Angesicht Gottes ersehnt.
Man muss den Bildwelten nicht unbedingt etwas abgewinnen können, aber ihr, nun ja, Kitsch, ist am besten als Assoziationsangebot zu begreifen. Und hat auch einen Witz: Fiorella Hincapié sitzt schwanger vor einem Blumenarrangement und singt Bachs "Erbarme dich" mit kompromissloser Operngrandezza, während man dazu ein Jazzschlagzeug mit eifrig gerührtem Besen hört. Dann regnet es auf sie, aber die Kamera fährt in der Leinwand zurück und man sieht neben ihr einen Gehilfen auf einer Leiter, der sie aus einer Gießkanne begießt.
Die Gestalt der Musiknummern, deren Sound allerdings verbesserungsfähig ist, rückt diese nah an den Zuschauer, auf dem Weg zwischen den Bildstöcken weht immer wieder der "Karfreitagszauber" aus Wagners "Parsifal" heran. Das hat eine perfide psychosomatische Wirkmächtigkeit, die einem sogar die digitale Apokalypse plausibel macht. Diese kann man auch selbst erkunden. Neben der vorgefertigten gibt es eine Videospielversion, in der man, wenn man es kapiert, selbst seinen Weg bestimmen kann. Man kann sich darin allerdings auch hemmungslos verlaufen, hat aber noch bis 11. April Zeit, den Weg zu finden.