Gisela von Wysocki "Der hingestreckte Sommer":Sanftmut der Kaputtmacherinnen

Gisela von Wysocki "Der hingestreckte Sommer": Im "Schutz der eigenen Verhuschtheit meinen Platz finden" will eine der Erzählerinnen von Gisela von Wysocki: Sich Verbergen ist eins ihrer wichtigen Motive.

Im "Schutz der eigenen Verhuschtheit meinen Platz finden" will eine der Erzählerinnen von Gisela von Wysocki: Sich Verbergen ist eins ihrer wichtigen Motive.

(Foto: Alamy / Evgeniy Chistov/mauritius images / Alamy / Evgen)

Die kleine literarische Form dient oft als sicheres Versteck für große Wahrheiten. Gisela von Wysocki ist eine ihrer Meisterinnen.

Von Meike Feßmann

Schatullen und Vitrinen, Nester, Höhlen, Muscheln, Schneckenhäuser - solcher Art sind die Orte träumerischer Geborgenheit, die Gaston Bachelard in seiner "Poetik des Raumes" aufruft. Mit Gisela von Wysocki kann man ihnen weitere hinzufügen, den "Federbettbunker" etwa, in dem ihr junges Alter Ego unter der Bettdecke die Stimme Adornos im Radio vernimmt, heimlich und also umso intensiver. Eine sphärische Verbundenheit im wohlig Unheimlichen spürt die Jüngere mit dem Älteren, eine intime Vertrautheit, die verschwiegen werden muss, als sie Jahre später in Frankfurt seine Studentin wird und er ihr weit weniger subtile Avancen macht. Einen ganzen Kometenschweif an Imaginärem führt die Konstellation mit sich, die Gisela von Wysocki in ihrem 2016 erschienenen Roman "Wiesengrund" schildert. Nun legt sie einen Band mit Prosaminiaturen vor.

"Der hingestreckte Sommer" ist ein eigenwilliges Werk, voller Capricen, Kapriolen, Einfälle, ein sorgfältiges Notizbuch aus "Gedächtnisstoff", ein Album nicht nur familiärer Verwandtschaftsverhältnisse. Und es ist auch ein Versteck. "Hatte im Schutz der eigenen Verhuschtheit meinen Platz finden wollen", heißt es in einer Geschichte, in der die Erzählerin die einzige Deutsche in einem slowakischen Kurhotel ist.

Gisela von Wysocki "Der hingestreckte Sommer": Die Schriftstellerin Gisela von Wysocki. Ihr Band "Fröste der Freiheit" von 1981 mit Porträts unter anderem von Sylvia Plath, Unica Zürn und Marieluise Fleißer ist ein Klassiker der Frauenbewegung.

Die Schriftstellerin Gisela von Wysocki. Ihr Band "Fröste der Freiheit" von 1981 mit Porträts unter anderem von Sylvia Plath, Unica Zürn und Marieluise Fleißer ist ein Klassiker der Frauenbewegung.

(Foto: Barry Lynch/Suhrkamp Verlag)

Ein Charakter des Chaplinesken zeichnet die Texte aus, eine Bewegungsart, die im Vorwärtsgehen auch etwas Zurückweichendes hat. Es sind neunundvierzig Prosaminiaturen, aufgeteilt in vier Rubriken, die Überschriften wie "Vitrinen" oder "Menschen und Blitze" tragen. In der Schwebe zwischen Abstraktion und Sinnlichkeit sind sie szenisch sehr präzis. Stilistisch den Schriftstellern der Brevitas verwandt, im erzählerischen Habitus stark gestisch geprägt, erkennt man in Wysockis Verkleinerungskunst die Schattenrisse von Kafka, Beckett oder Robert Walser. Diese Prosa baut Schutzwälle, Gehäuse, Umzäunungen und begibt sich zugleich in stutzendem Schlendergang auf Nebenwege. Sie liebt die Ablenkung des Blicks. Beispielsweise in der hinreißenden Titelgeschichte "Der hingestreckte Sommer", einem virtuosen Stück gezielter Verblendung. In der brutalen Hitze eines Berliner Sommertags wird die Aufmerksamkeit der Erzählerin von einem unverrückbar stehenden Passanten gefesselt, der sich trotz grüner Ampel nicht über die Straße wagt. Was hält ihn ab? Was ist dort zu sehen? Eine offenbar gar nicht metaphorische, sondern ganz reale, zerquetscht sich aufbäumende Schlange, deren Bild die Geschichte aber nicht wirklich evozieren will, um den zwangsläufig pompösen Effekt zu vermeiden.

"Komik und Katastrophe", zwei Großvokabeln, die in "Wiesengrund" den angstvollen Gemütszustand der Frankfurter Studentin beschreiben, sind in diesen Prosaminiaturen unablässig am Werk. Der Kinderwagen kann so zur ersten "Guckkasten"-Bühne werden. Geschoben, geschaukelt und gänzlich von den Bewegungen der Erwachsenen abhängig, schweift der Blick des Kindes umher und macht sich selbstständig: "Man fällt Urteile, man genießt ein triumphales Glück, sich über Bitten, Anordnungen hinwegzusetzen. Bald ist man hineingeschlittert in das feeling für Verborgenes und Misslungenes im Leben der anderen. Noch ohne Sprache, sind die aufscheinenden Mysterien dennoch beredt. Die verdächtigen, unwissentlichen Gesten der Mutter. Die kleinen, vom Vater weggelächelten Irritationen. Alles das, aufgenommen ins Protokoll, gehört ihnen, den späteren Zeiten. Könnte Material sein für die dereinst mit Psychologen fällig werdenden Gespräche. Alles das, was aussieht wie Kleinkram, Larifari, das könnte es sein."

Gisela von Wysocki "Der hingestreckte Sommer": Gisela von Wysocki: Der hingestreckte Sommer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 256 Seiten, 24 Euro.

Gisela von Wysocki: Der hingestreckte Sommer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 256 Seiten, 24 Euro.

Die Erwachsene, erkennbar durch die Schule Freuds gegangen, rekonstruiert eine Kindheitserfahrung, die am Ende auf eine unerschöpfliche Ästhetik des Verborgenen zuläuft. Im Verborgenen versteckt sich das Wahre, ließe sich die produktive Unterstellung pointieren. Seit den 1970er Jahren befeuert sie nicht nur die Seelenkunde, sondern auch die Ideologiekritik. Als literarisches Verfahren ist das in allen Genres ergiebig, von der Poesie über Märchen bis hin zum Kriminalroman. In der Kombination mit der Liebe zur Miniatur ergibt sie eine spezielle Weltsicht. Je tiefer etwas versteckt ist und je kleiner es erscheint, desto sicherer ist es. Das trifft nicht nur auf die Miniaturschrift Robert Walsers zu, nicht nur auf manche Skizzen Kafkas, es findet sich beispielsweise auch bei Sibylle Lewitscharoff, in ihren Texten, Zeichnungen und puppenstubengroßen "szenischen Objekten". Friederike Mayröcker, der Gisela von Wysocki einen eigenen Text widmet, hat das Skizzenhafte ihrer Zettel, Zeichnungen, Sprachentwürfe dagegen nicht mit einem Miniaturisierungsprojekt verknüpft. Das sprichwörtliche Chaos ihrer Wohnung in der Wiener Zentagasse folgt einem Gegenprogramm: der freudigen Verwilderung und Verästelung, das keiner Kontrolle bedarf.

Als Essayistin hat Gisela von Wysocki ihren Blick für weibliche Imaginationen geschärft. "Die Fröste der Freiheit", 1980 im Syndikat Verlag erschienen, gehört zu den Kultbüchern des bundesrepublikanischen Feminismus. Bei seiner Neuausgabe im Jahr 2000 ließ sie das ausführliche Gespräch mit der Mutter streichen, welches den Band abschloss. Sie ersetzte es durch einen Essay über Marguerite Duras. Warum? Das fragt sie sich nun, wiederum zwanzig Jahre später. "Im Rausch von der Leinwand gepflückt" ist in seiner Suchbewegung so etwas wie das Herzstück des Bandes. Sie habe nicht viel von der "Schwärmerei" ihrer Mutter fürs Kino gehalten, erzählt die Schriftstellerin, es sei ihr vorgekommen wie "eine undichte Stelle in ihrem Gefühlsleben". Nun aber erkennt sie, dass die Mutter das "Verschwinden und Untertauchen" gebraucht hatte, um ein Leben zu meistern, das von den "Existenzkrisen des Landes" geprägt war.

Es ist eine Form nachgetragener Liebe, die zugleich einen Fingerzeig enthält, der auf die Schriftstellerin selbst verweist. Einen bestimmten Typus von Schauspielerinnen habe die Mutter besonders geliebt. Sie seien Wesen "ganz für sich". Elisabeth Bergner gehörte dazu, "sanftmütig auf den ersten Blick, in Wirklichkeit aber eine (...) begnadete Kaputtmacherin." Damals im Gespräch hatte die Mutter bewundernd zu ihrer Tochter gesagt, sie ähnele dem Idol. Dieser Hinweis fehlt nun in der Erzählung. "Ich bin eine Verräterin", bezichtigt sich die Autorin. Doch das ist eine Tarnung. Längst hat sie von ihrer schriftstellerischen Oberhoheit Gebrauch gemacht, um eine Zuschreibung auszuschalten, die sie abwehren muss: am Ende ausgerechnet die mütterlichen Wunschbilder gelebt zu haben.

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