"Girl" im Kino:Lara ist längst weiblich, Penis hin, Penis her

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Obwohl der Körper von Lara (li.) kräftiger ist als der der anderen Mädchen, trainiert sie mit ihnen im Ballettunterricht mit. (Foto: Verleih)
  • Der preisgekrönte Film "Girl" handelt von einem Transmädchen, das Balletttänzerin werden will.
  • Lukas Dhont zeigt in seinem Debüt, dass es ganz normal ist, einen Körper zu haben, der nicht heteronormativ ist.

Von Philipp Stadelmaier

Was ist schon ungewöhnlich an einem Mädchen, das einen Penis hat? Die Antwort, die Lukas Dhont in "Girl" darauf gibt, lautet: gar nichts. Weswegen man sich beim Sehen des Films des Eindrucks nicht erwehren kann, dass eine Aufgabe des Kinos heute vor allem darin besteht, Diversität herzustellen. Und zu zeigen, dass sie niemals die Ausnahme ist, sondern komplett normal.

Ihr Name ist Lara. Gemeinsam mit ihrem Bruder und ihrem Vater ist die bald Sechzehnjährige in eine größere Stadt in Belgien gezogen. Sie wird dort auf eine renommierte Ballettschule gehen - Lara will Tänzerin werden. Auch ihre Geschlechtsangleichung, also die Hormonbehandlung und die operative Umwandlung ihres Penis in eine Vagina, sollen hier stattfinden.

Man kann von Lara also von einer Transfrau oder einem Transmädchen sprechen, aber der Begriff fällt im Film nie. Man kann auch darauf hinweisen, dass Lara früher Victor hieß, aber auch dieser Name und die von ihm suggerierte Geschlechtsidentität spielen keine Rolle. Victor, das ist der Vorname des Schauspielers Victor Polster, der Lara verkörpert, und dessen brillantem Spiel es maßgeblich mit zu verdanken ist, dass Dhont bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes für "Girl" völlig verdient die Goldene Kamera für den besten Debütfilm (und weitere Preise) gewann.

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Im Film wird der Name nur einmal kurz ausgesprochen, nämlich von Laras kleinem Bruder - einem Kind. Verwendet im Zorn, um die ältere Schwester zu ärgern. Der Vater, ein Taxifahrer, der sie bei allem großartig unterstützt, sagt ihr hingegen: "Du bist längst ein Mädchen, nur vielleicht noch etwas jung, um schon eine richtige Frau zu sein." Auch der Therapeut, der sie bei der Geschlechtsangleichung begleitet, erklärt, dass sie schon die Zeit vor der operativen Angleichung genießen solle. So lässt Dhont keinen Zweifel daran, dass Lara längst weiblich ist, Penis hin oder her.

Eigentlich, so denkt man, könnte dann doch alles so bleiben, wie es ist. Aber ganz so einfach ist das mit Laras Geschlecht natürlich auch wieder nicht. Die medizinischen Maßnahmen haben durchaus ihren Sinn und werden von Lara sehnsüchtig herbeigesehnt. Denn der Penis ist nun mal da - und er stört. Wenn Lara zum Tanzunterricht geht, bindet sie ihn ab, mit Klebestreifen, die sie sich später in einer schmerzhaften Prozedur wieder abzieht.

Ihr Penis bringt sie auch ein anderes Mal in eine demütigende Situation. Da ist sie mit den anderen Mädels aus ihrer Klasse auf einer Pyjamaparty, und irgendwann fordern sie ihre Freundinnen auf, ihren Penis herzuzeigen, zur allgemeinen Belustigung. Aber will Dhont hier wirklich transphobes Verhalten denunzieren? Zeigt er nicht eher, dass Teenager in der Gruppe oftmals unsensibel und emotional verletzend agieren können, und zwar gegenüber Außenseitern aller Art? Die Szene ist die einzige des Films, in der Lara wirklich offen verspottet wird. So nimmt Dhont Abstand davon, die sozialen Akzeptanzprobleme von Transpersonen in den Vordergrund zu stellen. Hätte der junge Belgier das getan, hätte er aber auch dem Verdacht Raum gegeben, dass es sich bei Lara doch um jemanden handeln könnte, der nicht "normal" ist. So aber beharrt er einfach ganz selbstverständlich auf der Normalität eines Körpers, der nicht heteronormativ ist.

Tänzerin zu werden und einen anderen Körper zu haben - es ist derselbe Wunsch

Außerdem ist Dhont ein viel zu guter Filmemacher, um aus Laras Konflikt ein "Thema" zu machen, über das dann groß geredet werden würde. Er will ihren Konflikt einfach nur filmen, und filmen kann man ihn nur - beim Tanzen. Beim Ballettunterricht läuft "Girl" richtig zu Hochform auf. Lara tanzt, die Kamera tanzt mit. Lara will als Tänzerin reüssieren und Ballerina werden. Obwohl ihr Körper kräftiger ist als die der anderen Mädchen, trainiert sie mit ihnen.

Was nicht einfach ist. Sie fällt hin, steht wieder auf, kriegt es irgendwie hin, scheitert wieder. Tänzerin zu werden und einen anderen Körper zu haben - es ist derselbe Wunsch. Dhont zeigt die Brutalität, die diesem Prozess zugrunde liegt: blutende Füße, aufgeschürfte Wunden, Tränen. Lara zwingt ihren Körper zu Dingen, die ihm nicht bekommen. Wie die Geschlechtsangleichung stellt auch das Tanzen eine Angleichung dar: an starre, haarscharf festgelegte Posen und Bewegungen, die das klassische Ballett dominieren und den Körper in ein enges Korsett zwingen, ebenso wie die Begriffe "Mann" und "Frau": "Plié! Spitztanz! Vor! Zurück!"

Irgendwann wird im Unterricht kurz und zum Spaß "Tomboy" der New Yorker Rapperin Princess Nokia aufgelegt, die in ihrem Song ein Rollenklischee konterkariert: Frauen haben spindeldürr zu sein oder füllig; eine Frau mit kleinen Brüsten und fettem Bauch hingegen, singt Nokia, gilt nicht als weiblich, sondern als Mann, als "Tomboy". Lara könnte Princess Nokias ironische Wut weiterführen und eine Welt anklagen, in der ihr, nur weil sie einen Penis hat, das Frausein abgesprochen wird. Aber ihr Protest bleibt aus.

Dhont zeigt, dass es normal ist, wie Lara zu sein, und dass es ebenso normal für sie ist, eine Vagina haben zu wollen. Dass es für sie keine Option ist, als Frau ihren Penis zu behalten, dass sie ihren Körper durchaus gewaltvoll in eine bestimmte Richtung zwingt, das wiederum ist das Zeichen dafür, dass unsere Gegenwart noch einem sehr traditionellen Geschlechtsverständnis folgt. In einer Welt, in der es Alltag wäre, dass Mädchen Penisse und Männer Vaginas haben, hätte Lara entspannter bleiben können. Halten wir uns daher an die Zukunft, in der in Ballettschule nicht mehr der staubige Schwanensee einstudieren wird, sondern Princess Nokia.

Girl , Belgien/Niederlande 2018 - Regie: Lukas Dhont. Buch: Dhont, Angelo Tijssens. Kamera: Frank van der Eeden. Mit Victor Polster, Arieh Worthalter, Oliver Bodart. Universum / DCM, 109 Minuten.

© SZ vom 23.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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