Gianfranco Calligarichs Roman "Der letzte Sommer in der Stadt":Nur Rom bleibt sich ewig gleich

Gianfranco Calligarichs Roman "Der letzte Sommer in der Stadt": In Calligarichs Roman blüht es noch einmal auf, das vergnügungssüchtige Rom der Sechzigerjahre.

In Calligarichs Roman blüht es noch einmal auf, das vergnügungssüchtige Rom der Sechzigerjahre.

(Foto: imago stock&people)

Durchdrungen von tiefer Trauer und dennoch hingerissen von der Schönheit des Lebens: Gianfranco Calligarichs Roman "Der letzte Sommer in der Stadt".

Von Maike Albath

Gianfranco Calligarich versteht sich auf Leichtigkeit. In seinem aus der Versenkung wieder aufgetauchten Roman "Der letzte Sommer in der Stadt", ursprünglich 1973 erschienen und dann jahrzehntelang vergessen, herrscht eine bezwingende Stimmung. Sämtliche Figuren, darunter militante Müßiggänger und Gelegenheitsschriftsteller, eine Antiquitätenhändlerin, ein TV-Redakteur, eine unschlüssige Studentin, ein Tennisprofi auf Abwegen, der ein oder andere abgebrannte Graf, verhinderte Drehbuchautoren und natürlich Journalisten, taumeln gegenwartstrunken durch die römischen Nächte.

Dass sich unter der vermeintlichen Unbeschwertheit zumindest bei Calligarichs Haupthelden eine tiefe Melancholie verbirgt, ahnt man von der ersten Seite an. Denn der Autor lässt Leo Gazzarra, der dreißig Jahre alt ist, aus Mailand stammt und sich nun seit einiger Zeit in Rom durchschlägt, selbst das Wort ergreifen. Der Roman ist nach dem Strukturprinzip eines Kreises aufgebaut und besteht aus einer langen Rückblende: Gazzarra befindet sich in einer Meeresbucht südlich der Hauptstadt und beginnt, aus der Retrospektive seine Geschicke darzulegen, um am Ende genau wieder am Ausgangspunkt zu landen.

Wovon dazwischen die Rede ist? Von der Liebe zu einer Frau, die sich entzieht, finanziellen Engpässen, dem Verlust eines Freundes. Oder, wie es das Motto von T.S. Eliot vorwegnimmt: "Wie er stieg und sank, durchlief er die Stufen von Alter und Jugend. Und trieb in den Wind."

Gianfranco Calligarichs Roman "Der letzte Sommer in der Stadt": Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Zsolnay Verlag, Wien 2021. 208 Seiten, 22 Euro.

Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Zsolnay Verlag, Wien 2021. 208 Seiten, 22 Euro.

Leo Gazzarra wendet sich direkt an seine Leser, das epische Mittel der Vorausdeutung kommt immer wieder zum Einsatz, und das Ganze gewinnt den Charakter eines Bekenntnisses, einer Lebensbeichte. Sein Großvater war ein slawischer Seemann, und tatsächlich verwendet auch sein Enkel mit Vorliebe eine maritime Metaphorik, von Karin Krieger glänzend übersetzt, ebenso wie Leo Gazzaras kolloquiales und zugleich elegantes Parlando. Der junge Mann versteht sich nämlich vor allem auf eines: "die Segel zu setzen" und einen Abgang zu machen, bevor es allzu brenzlig wird.

Aber zuallererst ist er ein Verführer, jemand, der sein Gegenüber durch Schlagfertigkeit und Bonmots erobert. Mit schwingenden Satzperioden, durchsetzt von pointierten Dialogen und bildhaften Vergleichen, schildert er seinen Abschied aus Mailand, den Schmerz, sich von seinem durch den Zweiten Weltkrieg zerrütteten Vater zu lösen, die Ankunft in Rom und seine erste Anstellung als Korrespondent einer medizinisch-literarischen Zeitschrift. Letztere währt nur ein Jahr, bietet aber, da die Redaktion in der Villa des bankrotten Adligen Giovanni Rubino di Sant'Elia ihren Sitz hatte, ein Exempel in stilvollem Nichtstun.

Etliche der kostbaren Möbel des Hauses sind bereits gepfändet, nur der Steinway-Flügel ist noch da, und in einen Morgenmantel gehüllt, gibt der Graf am Spätnachmittag sein Repertoire zum Besten. Nach der Kündigung hält sich Leo Gazzarra mit Aushilfsjobs beim Corriere dello Sport über Wasser, tippt Artikel vom Tonband ab, bezieht eine Wohnung von Freunden und übernimmt deren altersschwachen Alfa Romeo. Sämtliche Zutaten für ein Leben wie ein Filmstar aus den frühen 1960er-Jahren scheinen beisammen zu sein, und dann kommt auch noch die besagte Frau ins Spiel: eine überspannte venezianische Architekturstudentin namens Arianna mit Psychiatrieerfahrung, die Leo durch ihre spielerische Lebensauffassung in den Bann schlägt.

Der Roman fängt die behäbige Grandezza ein, der Fellini in "La dolce vita" ein Denkmal setzte

Richtig füreinander entscheiden können sie sich aber nicht, und es geht eine Weile hin und her. Weniger glamourös ist Leo Gazzarras Kampf gegen den Suff, in den er immer wieder abzurutschen droht. Als sich Arianna mit einem schwerreichen Künstler einlässt und dann sein bester Freund Graziano, mit dem er gerade noch ein Drehbuch geschrieben hat, am Alkohol zugrunde geht, dreht der lustvolle Taumel der Sommernächte ins Leere.

Gianfranco Calligarich, der die Veröffentlichung seines Debüts der Schriftstellerin Natalia Ginzburg verdankte, lange als Regisseur beim italienischen Fernsehen arbeitete, dann ein erfolgreiches Off-Theater gründete und erst seit 2004 mit einigen Romanen erneut als Schriftsteller reüssierte, lässt etliche autobiografische Erfahrungen in seinen Erstling einfließen. Er wurde 1947 in Asmara (Eritrea) geboren und wuchs genau wie sein Held in Mailand auf. Nach dem Schulabbruch folgte eine Ausbildung als Journalist in Urbino und dann der Umzug nach Rom, wo er bei ein, zwei Magazinen unterkam und hingerissen war von der behäbigen Grandezza der Stadt.

Es waren die späten Jahre der Via Veneto, die der Schriftsteller Ennio Flaiano schon in seinen Feuilletons porträtiert hatte, und der er dann mit Federico Fellini in dem mythischen Film "La dolce Vita" ein Denkmal setzte. Meistens hat man nur den streunenden Reporter Marcello Rubini - verkörpert von Marcello Mastroianni -, den sensationslüsternen Fotografen Paparazzo und die badende Anita Ekberg im Trevi-Brunnen im Kopf, aber es ist ja auch die Geschichte des Intellektuellen Steiner, der aus Verzweiflung über das saturierte, selbstgefällige Treiben einer immer rastloseren Bohème schließlich seine Kinder und sich selbst tötet.

Das Bild der Stadt scheint weniger beschädigt als bei Fellini

Das Echo des Skandals, den der Film 1959 bei seiner Uraufführung auslöste, wird in den 1960er-Jahren noch spürbar gewesen sein. "La dolce Vita" wirkt jedenfalls wie die Folie von Calligarichs Roman, sein Held Leo wie ein geläuterter Widergänger von Marcello und dem apokalyptischen Steiner. Auch die Schauplätze, wie die modernen Wohnungen am Stadtrand, die nächtlichen Straßen, die bröckelnden Brunnen auf den Plätzen scheinen dem Film nachempfunden.

Dass Calligarichs Roman, den es nur einen Sommer lang zu kaufen gab, auf Interesse stieß, mag mit diesem Déjà-vu-Effekt zu tun gehabt haben: Zum letzten Mal ließ jemand das vergnügungssüchtige Rom der frühen 1960er-Jahre aufleben, durchdrungen von tiefer Trauer, aber dennoch hingerissen von der Schönheit des Lebens. Zwar geht auch diese Geschichte schlecht aus, aber das Bild der Stadt scheint weniger beschädigt als bei Fellini, der es, nach Flaianos Worten, als einen Ort voller Fäulnis und Verwesung ins Bild setzte.

Calligarichs Roman war ein merkwürdiges Schicksal beschieden. Er erschien 1973 bei Garzanti, erreichte binnen weniger Wochen eine Auflage von 17 000 und verschwand aus unerklärlichen Gründen anschließend von der Bildfläche. Bei den Bouquinisten war er noch zu haben, und unter Liebhabern reichte man sich "Der letzte Sommer in der Stadt" weiter. Dass der Roman 2012 bei Aragno herauskam und plötzlich wieder sein Publikum fand, hing einerseits mit dem verblüffend zeitlosen Sujet und der funkelnden Sprache zusammen, andererseits aber auch mit der Omnipräsenz einer Dekadenzerfahrung.

Ganz Italien schien davon ergriffen, und es ist kein Zufall, dass Paolo Sorrentino in seinem Film "La grande Bellezza" dann ein Jahr später auf Fellinis große Metapher zurückgriff. Ob Fellini, Sorrentino oder Calligarich: Es geht um die italienische Lust am Karneval, am kompletten Ausnahmezustand, worauf Fastenzeit, Einkehr und Buße folgen, was den Drang einer erneuten Verletzung der Normen nur steigert. Eine anthropologische Konstante. Und bei Calligarich kann man genau das erleben: Nur Rom bleibt sich ewig gleich. Schlimmstenfalls wird man zum Opfer seiner Schönheit.

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