Giacomo Leopardis "Tagebuch der ersten Liebe":Eine diffuse Leidenschaft

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Empfindsamer Aufklärer, der genau weiß, was man verlangen und aus welchem Grund man sich wogegen auflehnen muss: Giacomo Leopardi. (Foto: Public domain)

Ein junger Mann, eine ältere Cousine: Das "Tagebuch der ersten Liebe" vom großen italienischen Dichter Giacomo Leopardi erscheint in brillanter neuer Übersetzung.

Von Thomas Steinfeld

Neunzehn Jahre alt ist Giacomo Leopardi, der Sohn eines Grafen aus einer Kleinstadt in den Marken, als er zum ersten Mal der Liebe begegnet. Oder genauer: einer sich allmählich verstärkenden und dann, unter bemerkenswerten Umständen wie Schlaflosigkeit und Appetitverlust, abklingenden Empfindung, der Leopardi den Namen "Liebe" gibt: "Seit mehr als einem Jahr" hatte er sich gewünscht, "mit wohlgestalteten Frauen zu reden und zu plaudern, wie es jedermann tut, und schon allein wenn mir eine zulächelte, was höchst selten geschah, erschien es mir als etwas unglaublich Seltsames, über alle Maßen süß und schmeichelhaft".

Süß ist allerdings auch, was der junge Leopardi in drei langen Tagebucheintragungen aus dem Dezember 1817 und einem Gedicht mit dem Titel "Il primo amore" - "Die erste Liebe" - betreibt: Er beschreibt, wie er sich verliebt und in wen er sich verliebt, er notiert sorgfältig jedes Ereignis und jede Regung des Gefühls. Zugleich berichtet er über sich selbst in einer gleichmütigen Reflexivität, die in der Liebe dem Willen zur Liebe hinterherspürt und das Willkürliche daran erkennt, ohne es doch der Ironie oder gar Kritik anheimzugeben.

Das Gedicht "Il primo amore" ist das früheste der "Canti" Leopardis, wurde aber in die erste, im Jahr 1824 erschienene Ausgabe der "Gesänge" nicht aufgenommen. Es ist auch nie so berühmt geworden wie die wenig später entstandenen vaterländischen Gesänge "All'Italia" ("An Italien") und "Sopra il monumento di Dante" ("Auf Dantes Denkmal") oder das Idyll "L'infinito" ("Das Unendliche") vom Herbst 1819, das Lieblingsgedicht vieler Italiener. Doch bilden die 34 dreizeiligen, Petrarca nachempfundenen Strophen von "Il primo amore" ein bedeutendes Werk.

Giacomo Leopardi: Tagebuch der ersten Liebe. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Mit einem Nachwort von Frank Witzel. Friedenauer Presse, Berlin 2023. 82 Seiten, 15 Euro. (Foto: Friedenauer Presse)

Die Übersetzerin hat klugerweise auf die Reime und ihr Schema verzichtet: "Da ich die Blicke stets zu Boden wandte / und sie doch ansah, die zu meinem Herzen / den Weg als Erste sich unwissend bahnte...". Eine diffuse Leidenschaft ergreift den jungen Mann. Er weiß nicht, was sie bedeutet. Sie hat noch nicht zum Begehren gefunden, ist nicht eindeutig angenehm und bleibt irgendwo in der Atmosphäre hängen, sodass es beinahe eine Erleichterung ist, als die bewunderte Frau nach drei Tagen abreist und nur die Erinnerung an eine seltsame Intensität des Empfindens zurückbleibt.

In der Tagebuchfassung liest sich das Ereignis so: "Die Gefühle meines Herzens betrachtend, legte ich mich ins Bett, es waren im Wesentlichen: eine unbestimmte Unruhe, Unzufriedenheit, Melancholie, ein wenig Süße und ein Verlangen, ich wusste und weiß nicht, wonach, und unter den möglichen Dingen erkenne ich nichts, das es stillen konnte." Eine ältere Cousine hatte die Familie in ihrem bescheidenen Palast in Recanati besucht, der junge Mann hatte die feinen Züge, die schwarzen Augen und eine wache Intelligenz bemerkt, doch geschehen war nichts.

Es kann nicht leicht gewesen sein, für dieses Ineinander von Gefühl und Verstand eine deutsche Übersetzung zu finden

Von solchen Erlebnissen berichten Tagebuch und Gedicht, und bemerkenswert daran ist nicht nur die Unschuld des Verehrers, sondern auch die Abwesenheit eines jeden festen Vokabulars. In welchem Maße alles, was mit Liebe zu tun hat, seit mindestens zweihundert Jahren in vorgeprägte Bilder und Verlaufsformen, in formelhafte Wendungen und gegebene Empfindungen gefasst ist: Das erfasst man erst, wenn diese Routinen ausfallen und sich eine scharfe, aber offenbar zur Melancholie neigende Intelligenz über das eigene Herz beugt. Es kann nicht leicht gewesen sein, für dieses Ineinander von Gefühl und Verstand eine deutsche Übersetzung zu finden, zumal das italienische Original mit langen, ausstudierten Sätzen und lateinischer Prosodie daherkommt: Marianne Schneider ist es gelungen.

Und es war ein glücklicher Einfall des Verlags, das ein wenig vernachlässigte Gedicht und die dazugehörigen Texte hervorzuholen und als selbständige Veröffentlichung zu präsentieren: Es lässt sich mehr daraus lernen, als die Literaturgeschichte kennt. Glücklich auch die Idee, den Schriftsteller Frank Witzel mit dem Nachwort zu betrauen: Er reicht nicht nur das positive Wissen nach, das man zum Verständnis des "Canto" braucht, sondern entwickelt auch die Figur eines ebenso lauteren wie empfindsamen Aufklärers, der genau weiß, was man verlangen und aus welchem Grund man sich wogegen auflehnen muss, der am Ende aber immer schon zu viel weiß - was auch für die Liebe gilt. Es ist, als hätten sich in diesen kreisenden Bewegungen zwei verwandte Seelen getroffen.

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