Gewalt in den Medien:"Der beste Filter sind Sie selber"

Johnny Depp in dem Kinofilm "Lone Ranger"

Der Film "Lone Ranger" mit Johnny Depp ist ab 12 Jahren freigegeben. Trotzdem werden hier munter Herzen gegessen.

(Foto: 2012 Disney and Jerry Bruckheimer, Inc.)

Manche Urteile der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) wirken geradezu bizarr. Warum ist "Lone Ranger" ab 12 Jahren freigegeben, wenn im Film Herzen verspeist werden? Inzwischen ist das Kino aber das geringstes Problem, denn im Internet gibt es alles ab 0 Jahren.

Von Alex Rühle

Wieder so ein Tag, an dem man als Erwachsener die Welt nicht mehr versteht. "The Lone Ranger". Der neue Film mit Johnny Depp feiert am 8. August Deutschland-Premiere, die 12-Jährigen werden in Scharen begeistert in die Kinos strömen. Und viele Erwachsene werden kopfschüttelnd rausstolpern.

Johnny Depp spielt einen ähnlich bizarren Typen wie in "Fluch der Karibik", nur dass er diesmal dabei nicht komisch ist, sondern man hat zwei Stunden Zeit, sich Gedanken über die Tragik der Selbstparodie zu machen. Wilde Schminke, tote Krähe auf dem Kopf, eine Mischung aus Clown und Schamane, ein halbautistischer Indianer, der einem Weißen dabei hilft, seinen toten Bruder zu rächen. Es ist die typische Selbstjustiznummer: Eigentlich hat der Held ja edle Motive, aber dann wird leider der geliebte Verwandte getötet, was willste machen, da muss man gründlich Rache nehmen.

Auf dem tarantinösen Feldzug der beiden werden ein Indianerstamm ausgerottet und Dutzende Ranger erschossen. Gut, kann passieren in einem Western. Aber muss denn jede Erschießung einer elaborierten Hinrichtung gleichen? Ausnahmslos alle Protagonisten sind hinterhältig, dreckig und gemein. Und dann kommt diese Szene, in der einem Mann bei lebendigem Leib das Herz herausgeschnitten und gegessen wird.

"Keinohrhasen" klingt ja auch erst mal niedlich

Es wird zwar nicht gezeigt, wie das Messer in den Körper schneidet, der Sounddesigner aber hat sich alle Mühe gegeben, dass man sich als Zuschauer wunderbar ausmalen kann, wie die Klinge durch Fleisch und Sehnen schneidet und dann das glitschig pumpende Organ herausgerissen wird. "The Lone Ranger" wurde von der FSK freigegeben ab 12 Jahren.

Die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) wurde 1949 gegründet, damals mit dem Ziel zu prüfen, ob Filme nationalsozialistische Inhalte propagieren. Heute prüft sie, ob ein Film geeignet ist, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen. So steht's im Jugendschutzgesetz, nach dem sich die FSK zu richten hat. Sie gehört zur Spitzenorganisation der Filmwirtschaft e.V. (Spio), die aus 16 filmwirtschaftlichen Verbänden besteht, und sie finanziert sich über die Prüfgebühren der Antragsteller. Für einen Zweistundenfilm muss der Verleiher rund 2000 Euro zahlen. Weil Filme, die nicht geprüft werden, automatisch "ab 18" sind, lässt die Filmindustrie die meisten Filme prüfen.

Nach dem Depp-Film, auf dem Heimweg vom Kino, fallen dem Erwachsenen all die anderen Fälle ein, bei denen er sich in letzter Zeit an den Kopf gegriffen hat. "Harry Potter und die Heiligtümer des Todes". Endloses Gemetzel - freigegeben ab 12. "Coraline", eine Art Zombiemärchen, ein verstörender Horrortrip, die Wesen mit den toten Knopfaugen, das vernachlässigte Kind, sicher eine meisterhafte Allegorie auf die Macht der Drogen, aber ab 6? Geht's noch?! "Hautnah" von Mike Nichols mit all den Gesprächen über Ficken, Fotzen, Sperma: FSK 12. "Keinohrhasen" von Till Schweiger. Frei ab 6. Klingt ja auch erst mal niedlich. Auf den deutschen Pausenhöfen schwadronierten dann aber Zweitklässler über Lecken und Blasen, und die FSK sah sich genötigt, nach massiven Protesten auf 12 hochzustufen.

Einzelszenen oder Kontext?

Statt hier weiter Einzelfälle aufzuzählen, lieber nur eine Zahl: 46 von 100. Die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schaute sich in einem groß angelegten Versuch vor drei Jahren 100 Filme mit dem FSK-12-Siegel an und urteilte danach, 46 der Filme seien aufgrund ihres Sex- und Gewaltgehalts sowie obszöner Sprache schädlich für zwölf Jahre alte Kinder.

Die FSK verwahrte sich scharf gegen dieses Urteil und warf der FAS vor, Einzelszenen aus dem Kontext der Filme herausgerissen zu haben. Filme würden in ihrer Gesamtheit geprüft. Aber funktioniert so der seelische Haushalt eines Kindes? Wenn ein 12-Jähriger in "Das Leben des David Gale" Zeuge wird, wie einer nackten Frau die Hände mit Handschellen auf den Rücken fixiert werden; wie ihr eine Plastiktüte über den Kopf gezogen wird; wie sie sich auf dem Boden krümmt und vergeblich gegen ihren Erstickungstod ankämpft - wird dieser 12-Jährige abends im Bett sagen: Wohlan, bevor ich mich fürchte, will ich diese Szene erst einmal in ihren Kontext einbetten und mir noch mal genaue Gedanken über die Intention des Filmes machen? Wird er nicht. Vielmehr werden die Bilder zumindest bei sensibleren Kindern jäh, unvermittelt, isoliert wieder hochkommen.

Massive Verschiebung der Maßstäbe

Vielleicht ist man besonders empfindlich für das Thema, wenn man einen Sohn hat, der an der Schwelle zur Pubertät steht: Plötzlich muss man das Kind, das langsam keines mehr ist, ziehen lassen und kriegt nicht mehr mit, was es den ganzen Tag so treibt. Der Sog des Internets. Computerspiele. Die Freunde, die DVD-Player in den Zimmern haben und nachmittags alleine zu Hause sind. Umso dringlicher, mal nachzufragen bei der FSK, wie die zu ihren schrägen Urteilen kommt.

Zwei Möglichkeiten: ein Besuch bei der entfernten Bekannten, die in Oberbayern lebt, seit Jahren als Ehrenamtliche für die FSK Filme sichtet, aber nicht namentlich in der Zeitung stehen will.

Schade, denn sie sagt wirklich interessante Sachen: Dass sie die Bedenken des Erwachsenen nur zu gut verstehe. Dass sich "in den Filmbeurteilungen in den vergangenen zehn Jahren so viel verändert hat wie in all den Jahrzehnten zuvor." Dass die Altersbeschränkungen 6, 12, 16 und 18 "entwicklungspsychologisch gesehen völliger Unsinn sind, eigentlich müsste man das doch umdrehen: Feine Abstufungen in den frühen Jahren, also 6, 8, 10, statt 16 und 18." Und die FAS, klar, die habe vereinfacht, und das seien alles einzelne Laienmeinungen von Journalisten, "aber grundsätzlich war das völlig berechtigt."

Die andere Möglichkeit: ein Anruf bei Christiane von Wahlert. Wahlert ist seit 2002 zusammen mit Helmut Poßmann Geschäftsführerin der FSK. Sie ist extrem eloquent und kann erste Nachhilfe leisten: Es gibt bei der FSK 272 ehrenamtliche Prüfer. Die sichten jeweils in Fünfergruppen. Da pro Jahr mehr als 8000 Freigaben gegeben werden müssen, treffen sich täglich bis zu fünf Ausschüsse gleichzeitig. Unter den Prüfern sind Lehrer, Psychologen, Studenten, Sozialarbeiter, Richter. Die fünf Prüfer müssen jeweils mit einfacher Mehrheit ein Votum abgeben.

Freigaben sind nur Erlaubnisse, keine pädagogischen Empfehlungen

Aber sind diese Prüfer nicht enormem Druck der Industrie ausgesetzt? Für die Verleiher geht es ja bei dem Siegel um Millionen: FSK 16 bedeutet, dass ein großer Teil der Zielgruppe wegbricht. Und es bedeutet später bei der Zweitverwertung im Fernsehen, dass der Film erst ab 22 Uhr gezeigt werden darf (Filme ab 18 eine Stunde später, ab 23 Uhr). Nein, sagt Wahlert, von Seiten der Verleiher werde keinerlei Einfluss genommen. "Jeder Antragsteller, ob groß oder klein, kann einen Anwalt oder eine andere sachkundige Person in die Prüfung schicken. Ob der Ausschuss den Argumenten des Antragstellers folgt, ist allein die Entscheidung des Ausschusses." Jeder Verleiher hätte das Recht, seine Filme umzuschneiden und sie erneut vorzulegen.

Als es dann um einzelne Filme und deren Beurteilungen geht, sagt Wahlert: "Die Prüfer entscheiden unabhängig und weisungsfrei. Sie sind sehr erfahren, dem Grundgesetz und dem Jugendschutzgesetz verpflichtet. Und ganz wichtig: Freigaben sind nur Erlaubnisse, keine pädagogischen Empfehlungen, das missverstehen viele. Die FSK kann nur darüber befinden, ob ein Film geeignet ist, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen. So steht's im Jugendschutzgesetz, und danach haben wir uns zu richten."

Zu "Lone Ranger" möchte sie sich nicht äußern, da ist die Prüfung noch nicht abgeschlossen. Sie sagt aber, es gebe regelmäßig Testscreenings von Filmen mit 500 Jugendlichen. Die würden danach jedes Mal mehrheitlich dieselbe Alterseinschätzung abgeben wie die FSK.

"Ich mach mir richtig, richtig Sorgen."

Apropos Jugendliche - einige der Jungs, mit denen der Sohn des Autors täglich zusammen ist, haben all die oben aufgezählten Filme gesehen und wachsen trotzdem gerade zu munteren Jugendlichen heran. Sollte also nicht jeder selbst entscheiden, was er seinem Kind zumutet? In Frankreich gibt es so gut wie gar keine Altersbeschränkungen für Filme, wegen der Kunstfreiheit. Bringen generelle Verbote überhaupt etwas? Ist es nicht eher sogar reizvoll für Jugendliche, wenn das rote 18-Signal auf einem Videospiel oder Film prangt? Bushido hätte man kommerziell gesehen gar keinen größeren Gefallen tun können, als sein neues Hassvideo zu indizieren. Kurzum: Ist es nicht äußerst spießig, nach dem Gesetzgeber zu rufen?

"Finde ich gar nicht", sagt Verena Weigand. "Im Gegenteil, wir fühlen uns in Sachen Jugendschutz oft ziemlich allein gelassen." Weigand arbeitet bei der Bayerischen Landeszentrale für Neue Medien (BLM). Die BLM, die ihren Sitz in München-Neuperlach hat, genehmigt und beaufsichtigt als eine von 14 Landesmedienanstalten in Deutschland die privaten Hörfunk- und Fernsehangebote in Bayern. Was auch bedeutet, dass sie die FSK-Vorgaben im Fernsehen zu beurteilen hat:

Oftmals versuchen die Sender, durch einige Schnitte oder andere Änderungen im zweiten Anlauf das Mindestalter zu senken. Was FSK 12 hat, darf prinzipiell den ganzen Tag über laufen, "und da", sagt Weigand, "kann man in letzter Zeit eine massive Verschiebung der Maßstäbe feststellen. ,Gladiator' wäre vor zehn Jahren niemals im Nachmittagsprogramm gelaufen."

"Kopfschuss, aber wohin genau?

Weigand ist eine sehr ruhige Frau. Sie hat lange als Erzieherin gearbeitet und dann Pädagogik und Buchwissenschaften studiert. Heute ist sie nicht nur Leiterin des Bereichs Medienkompetenz und Jugendschutz bei der BLM, sondern auch noch Leiterin der KJM-Stabsstelle. Die KJM ist die Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten.

Es ist beeindruckend, wenn jemand, der so still ist, der so bedächtig formuliert, den Satz sagt: "Ich mach mir richtig, richtig Sorgen." "Was? Wegen der FSK?" "Ach, Ihre FSK-Sorgen verstehe ich gut. Aber das ist doch gar nicht mehr das eigentliche Problem." Sondern? "Kommen Sie mal mit."

"Ich will einfach nicht allein sein mit diesen Bildern."

Ein Container im Garten der BLM. Vier Bildschirme. Auf dem einen massieren zwei Frauen ihre Brüste. Auf dem zweiten steht in Fraktur etwas Rechtsextremes. Auf dem dritten sieht man Unfallbilder, so grausam, dass dem Erwachsenen schlecht wird, ein abgerissener Kopf, ein verkohlter Babykopf, eine Penisamputation . . . Und auf dem vierten Rechner wird der Frage nachgegangen: "Kopfschuss, aber wohin genau?" Ein Selbstmordforum mit wissenschaftlich akkuraten Grafiken, wie man die Pistole zu halten hat, damit auch ganz bestimmt das Stammhirn getroffen wird.

Vor den Bildschirmen sitzen zwei junge Männer und zwei Frauen, die ihre Namen auf keinen Fall in der Zeitung sehen wollen. Sie sind studierte Sprachwissenschaftler, Historiker, Pädagogen, Soziologen, vier von acht, die hier für die BLM Tag für Tag pornografische, gewaltverherrlichende, extremistische oder sonst wie gefährliche Seiten prüfen.

Bei Verstößen gegen den Jugendschutz schreiben sie einen Indizierungsantrag. Wird dem dann von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien stattgegeben, verschwindet die Seite aus den Suchmaschinen. Aus dem Netz natürlich nicht, wer sie kennt, kann die Seiten weiterhin gezielt ansteuern. Neuester Trend: Foren mit Atemreduktionsmethoden. SM-Seiten mit zugeklebtem Mund. Plastiktüte überm Kopf. So Sachen.

Was für eine Wucht all diese Seiten haben, wird klar bei der Antwort der vier Erwachsenen auf die Frage, ob das nicht zu eng sei, so viele Leute in einem derart kleinen Raum: "Machen wir freiwillig", sagt der Mann vor dem Selbstmordforum. "Ich will einfach nicht allein sein mit diesen Bildern." Und warum tun sie sich das an? Täglich acht Stunden als digitaler Streetworker durch die dunkelsten Hinterhöfe des Netzes stromern? "Jede Seite, die ich hier sehe, wird meine Tochter nicht sehen", sagt die Chefin der vier Prüfer.

Blitzableiter elterlicher Sorgen

Klar, sie müssen auch ab und zu einen Film anschauen wegen eventuell neuer FSK-Kennung, "das ist dann aber eine angenehme Pause", sagt die Chefin und Weigand lacht leise. Dann sagt sie: "Verstehen Sie? Die Empörung über FSK-Urteile kommt mir vor wie eine Art Blitzableiter elterlicher Sorgen. Endlich eine Organisation, die mal etwas klipp und klar einordnet für uns!

Das mag ja auch alles berechtigt sein, aber die eigentliche Verschiebung findet doch hier statt." Dem Erwachsenen fällt ein Satz von Christiane von Wahlert wieder ein: Die FSK sei "ein Fels in der Brandung", sagte sie. "Natürlich werden Sie mit einzelnen Urteilen nicht übereinstimmen. Aber das Kino ist im öffentlichen Leben der am besten durchgeregelte Raum in Sachen Jugendschutz." Nach zehn Minuten in diesem Raum kommt dem Erwachsenen sein ganzes FSK-Geschimpfe vor wie ein mutiger Monolog im Streichelzoo.

Okay. Was also tun? "Bleiben Sie in Kontakt mit Ihren Kindern", sagt Weigand. "Die werden das Netz ohnehin erkunden. Das sind Mutproben, die wollen in die Welt der Erwachsenen rüberschauen." Deren Welt ist teilweise so scheußlich, dass Weigand Probleme hat, Mitarbeiter zu rekrutieren. "Wir legen den Bewerbern eine Giftmappe vor, Bilder von Fäkalsex, Folter, Wunden, und fragen, ob sie das ertragen, jeden Tag. Da springen die meisten ab."

Gut. Danke. Was kann man sonst noch tun? Filter einbauen? Die Chefin der vier Netzdurchwater dreht sich von ihrem Bildschirm um und sagt: "Natürlich. Aber der beste Filter sind Sie selber."

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