Hermann Kinder gestorben:Die Komik des Schreckens

Hermann Kinder, 2016

Ein Meister des Sarkasmus: Hermann Kinder.

(Foto: Brigitte Friedrich/SZ Photo)

Der Schriftsteller Hermann Kinder ist gestorben. Nachruf auf einen ungemein klugen und skrupulösen Erzähler.

Von Hilmar Klute

Als Hermann Kinder die literarische Bühne betrat, war er bereits durch die gruppendynamischen Siebzigerjahre gerauscht, er, der promovierte Germanist und Akademische Rat ("Mittelbauer" nannte Kinder sich selbstironisch einmal) an der damals noch sehr frischen Universität Konstanz. "Der Schleiftrog", Kinders Debüt, war formal ein Bildungsroman im Stil der Zeit. Es galt, die Vätergeneration möglichst mit Fußtritt zu verabschieden, das politische Engagement zu bejahen und die Hochschule als Bildungsfabrik zu kritisieren. Aber wie Hermann Kinder diese Geschichte des jungen Mannes aus Münster erzählt, der erst im Internat den Geschmack der Freiheit kostet und dann auf der Universität fast am eigenen Anspruch scheitert, mehr aber noch an dem der anderen, ist so trocken komisch, dass man die Geschichte auch heute noch mit Vergnügen liest.

Die Überforderung jener Generation, Kinder war Jahrgang 1944, die sich mit dem Bildungsgut der Väter eine eigene Identität zusammenbasteln musste, ist selten so präzise und grimmig komisch geschildert worden wie im "Schleiftrog". Politik zu machen war Pflicht, am besten an der Basis. Der von der komplexen Philologie bereits erschöpfte Erzähler steht also in der Pflicht, sich neben Grimmelshausen und Lautverschiebung auch in die Belange der SPD-Ortgruppe Uppenberg reinzufuchsen. Das heißt vor allem: Schnaps und Bier zu trinken, bis ihm der Glaube an die Veränderbarkeit der Gesellschaft dahinschwimmt. "Und immer finde ich das, was ich mir überlegt habe, schon längst und besser woanders aufgeschrieben. Und ich bin noch bei Hegel."

"Der Schleiftrog" machte Kinder zu einem erfolgreichen Schriftsteller. Der Zürcher Diogenes-Verlag zählte ihn zu seinen Hausautoren, mit "Der helle Wahn" und "Vom Schweinemut der Zeit" schrieb sich Kinder in die Riege der gebildet sarkastischen Erzähler jener Jahre. Diese publizierten bald im neuen Haffmans-Verlag, wo auch Kinder mit seinen Büchern landete. Wer in den späten Achtzigerjahren studiert hat, weiß: im Seminar galt es, die Regenbogenfarben der Edition Suhrkamp anzubeten, aber in der Cafeteria las man die Haffmans-Bücher von Eckhard Henscheid, Robert Gernhardt und Julian Barnes. Es waren die Jahre, in denen Autoren und Verlage noch so viel Selbstironie und Chuzpe besaßen, dass sie auch Verrisse auf die Klappendeckel ihrer Bücher druckten. Denn Kinder wird ja zugestimmt haben, dass hinten auf der Taschenbuchausgabe seiner in Wahrheit sehr komischen Germanistennovelle "Kina Kina" der Kritikerseufzer stand: "Warum ist die jammerläppische Langnase nicht gleich in Konstanz geblieben?"

Die Kritik war rüde mit ihm umgegangen, bei seinen Studenten war er beliebt

Möglicherweise wollte Kinder mit dem negativen Zitat auch dokumentieren, dass die Kritik mit seinen Romanen und Erzählungen eine Zeit lang recht rüde umgegangen ist. Er selbst sah sich als Opfer Marcel Reich-Ranickis, der Aufsatz "Schweine-Bande" berichtet bitter von dessen angeblichem, letztlich wohl gelungenen Versuch, ihn aus der öffentlichen Wahrnehmung als Schriftsteller zu verbannen. Kinder blieb, ohne dort Karriere zu machen, an der Uni, war bei Studenten sehr beliebt und würzte seine Wissenschaft als Herausgeber von Zeugnissen der traurigen Liebe des Dichters Gottfried August Bürger zu Elise Hahn sowie durch die große Anthologie "Die klassische Sau", in der Männer wie Gleim, Voss und Goethe als Pornografen vorgestellt werden.

Von Kinders radikal subjektiven, an den Paradigmen der neuen Innerlichkeit geschulten Erzählweise profitiert aber wieder sein Spätwerk, das beim Verlag Weissbooks eine neue Heimat gefunden hat. Schonungslos und in der Technik der Selbstbezichtigung geübt, erzählte Kinder vom Altern und vom Sterben. In einem seiner letzten Bücher, "Der Weg allen Fleisches", schildert er seine plötzliche Erkrankung. Ihr folgte ein rapider körperlicher Niedergang, dessen groteske Einzelheiten Kinder so genau und unsentimental schildert, dass man beim Lesen erschrickt - weil man laut lachen muss.

Seine Poetologie hat Kinder in Essays und Reden immer wieder aufs Neue umkreist: Wer schreibt, versucht einen Defekt zu korrigieren. Hermann Kinder war ein ungemein kluger und skrupulöser Erzähler, der sowohl den infernalischen Witz kannte als auch die Jeremiade. Sein Leben am Rand des Erfolgs und des Betriebs mag ihn gewurmt haben, es hat ihm aber erzählerische Souveränität und literarische Unbestechlichkeit gesichert. Die Literatur, das wusste Kinder, ist kein Wettbewerb, in dem die angeblich Besten das Rennen machen, sondern eine ständige Suche nach Selbstvergewisserung. "Jeder Text ist Aufhebung des schreibenden Ichs", schrieb Kinder einmal, "er bewahrt es und lässt es verschwinden." Jetzt ist Hermann Kinder mit 77 Jahren in Konstanz gestorben.

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