Süddeutsche Zeitung

Gesellschaftsdebatte:Der Duft der Anderen

Auf dem größten Kongress der Geisteswissenschaften in Europa suchten Akademiker nach praxisnahen Lösungsmodellen für die Spaltungen der Gesellschaft und der Welt.

Von Johan Schloemann

Historiker riechen. Im Fall des riesigen Fachkongresses, den sie in dieser Woche in Münster abgehalten haben, rochen sie an einer kleinen Flasche, die durch die Reihen eines Hörsaals gereicht wurde. "Aber bitte nicht trinken!" Es handelte sich um jenes Reinigungsmittel, das den spezifischen, leicht strengen und lang anhaltenden Geruch in den Fluren und Innenräumen der DDR erzeugte. Augen schließen, sich erinnern ...

Der Berliner Zeit- und Pophistoriker Bodo Mrozek, der immer für den originellsten und lustigsten Vortrag gut ist, sprach über das Thema "Der Duft der Anderen". Das Tagungsmotto "Gespaltene Gesellschaften" nutzte er für "eine olfaktorische Geschichte der deutschen Teilung". Und so ging es mitten im gediegenen Westfalen, wo es eher nach Mettwurst und Pferden riecht, um das Bouquet, das einst aus den West-Paketen hervorstieg, um fehlende Filter in Schornsteinen, Chemiefabriken und Trabi-Auspuffen, um "transnationale Gerüche", die in Berlin über die Mauer schwappten, um die unterschiedliche Parfümiertheit von Konsumprodukten, um längst verhauchten altbundesrepublikanischen Mief und am Ende um die "Geruchsgemeinschaften", die mit der Wiedervereinigung aufeinandertrafen. "Sensory studies" nennt sich diese Art der Geschichtsschreibung.

Von einem Hysterikertag zu sprechen, wäre allerdings auch übertrieben zugespitzt

Ihr Thema "Gespaltene Gesellschaften" fanden die meisten Historikerinnen und Historiker in Münster "bedrückend aktuell", wie es ihre Verbandschefin Eva Schlotheuber ausdrückte. Und so gab es auf diesem 52. Deutschen Historikertag diverse gründliche Sektionen und Podiumsdiskussionen über die Zeitgeschichte der Migration und des Rassismus, über die "neue Rechte", die den digitalen Umbruch der Öffentlichkeit für sich nutzt und in Wahrheit Altes nur neu verpackt, zum Beispiel in Neusprech wie "Ethnopluralismus"; über den "Vogelschiss" in der deutschen Vergangenheit, über nationalistische Geschichtsverdrehung in Osteuropa, über die jahrtausendealte Geschichte der "Fake News" und der Hassrede, über Wertevermittlung in den Schulen, über die bedrohte oder vielleicht doch noch einigermaßen stabile repräsentative Demokratie und über die Angemessenheit des Kampfbegriffs Parallelgesellschaft. Und es gab Streit darüber, ob die Historiker und Geschichtslehrer eigentlich kollektiv moralische Appelle gegen die Radikalisierung verkünden sollen, in Form von öffentlich wohl eher wirkungslosen Resolutionen. Oder ob sie besser beim Ideal wissenschaftlicher Objektivität bleiben und die historische Erkenntnis sowie das kritische Handwerkszeug beisteuern, das man dann gegebenenfalls für die politische Debatte gebrauchen kann.

Das war alles richtig und notwendig. Historiker haben da einiges und Kluges zu sagen, und sie sollten es auch möglichst laut in der Öffentlichkeit tun, nicht immer nur die paar bekannteren Professoren mit Medienerfahrung. Auch wenn manchmal unklar bleiben muss, was davon eigentlich Bürgertugend und was Forschung ist, das Risiko muss man als gespaltener Geisteswissenschaftler eben eingehen.

In Münster, wo sich über vier Tage Tausende Wissenschaftler trafen, war allerdings gelegentlich zu beobachten, dass in der überwiegend liberalen Akademikerblase manche "nach Chemnitz" in den Redeformen und den Diskussionsformaten exakt diejenige hektische, aufgeregte Zuspitzung übernehmen, die sie den Rechtspopulisten empört attestieren. In diese Falle, die aus der allgemeinen Debatte bekannt ist, sollten habilitierte Archiv- und Quellenexperten und metikulöse Historiografen nicht tappen. Deswegen insgesamt von einem Hysterikertag zu sprechen, wäre dann allerdings auch übertrieben zugespitzt.

Nein, erst einmal gab es in Münster - also der Stadt des Westfälischen Friedens nach dem Dreißigjährigen Krieg - ein anderes Problem: "Spaltung" einer Gesellschaft schien in vielen Beiträgen etwas zu sein, was der Historiker eher mal so wittert. Wo doch Konflikte, Gegensätze, unterschiedliche Lebensformen und Weltanschauungen eigentlich jede Gesellschaft ausmachen, mindestens die moderne.

Darum war es wohltuend, dass auf dem Historikertag ein paar grundsätzlichere Begriffsklärungen versucht wurden. "Wer Spaltung sagt, muss eine Grenze beschreiben", also nicht bloß graduelle Unterschiede, mahnte der Berliner Zeithistoriker Thomas Mergel. In einer Zeit, in der diese Metapher extrem beliebt ist - auch in außenpolitischen Stimmungsberichten, wo ständig diverse Länder "tief gespalten" sind - , müsse man zunächst genau prüfen, ob der Begriff sozial, kulturell, (partei-)politisch oder ideologisch gemeint ist und wo sich das jeweils berührt oder bedingt.

Der Bonner Weltgesellschafts-Forscher Rudolf Stichweh bezeichnete im Anschluss an den vor 100 Jahren gestorbenen Soziologen Georg Simmel Konflikte als produktiv, solange nicht immer wieder genau dieselben Populationen gegeneinander stünden, nur dann sei eine Gesellschaft wirklich "gespalten". Eine solche Spaltung bedeute auch meist, dass es dauerhaft Gewinner und Verlierer gebe, mit kumulativen Effekten, also sich selbst verstärkend, was auf die USA der Gegenwart wohl durchaus schon zutreffe.

Rudolf Stichweh erinnerte auch daran, dass man auf die Unterschiede zwischen den Ebenen achten muss: So könne ein Land lokal gespalten sein, also auch innerhalb des Lokalen, aber national verbunden. Es gebe aber auch die umgekehrten Fälle, also recht konfliktfreie lokale Einheiten inmitten einer gespaltenen Nation, zum Beispiel in dysfunktionalen Kleptokratien. Manche Spaltungen bestünden in alten und modernen Formen der Sklaverei, andere in der Exklusion nach innen, also nach Art der Lager, Reservate oder abgetrennten Siedlungen der Reichen.

Mit solchem gedanklichen Besteck nun konnte man das Füllhorn an Spaltungs- und Konfliktgeschichten besser goutieren, das in den Hörsälen der Universität Münster in Hunderten Einzelvorträgen ausgeschüttet wurde. Das reichte von den jüngsten Referenden, die Europa bis zum Brexit erschüttert haben und die Lust auf Volksabstimmungen deutlich abgekühlt haben, vom jüngsten Separatismus in Katalonien (unheilbar nach Einschätzung der Experten), Schottland, Südtirol und auf dem Balkan bis zurück zum Verhältnis von groben Beleidigungen und politischen Netzwerken in der Antike. Die römischen Eliten brauchten laut Martin Jehne aus Dresden, wo man die Geschichte der politischen Schmähungen untersucht, eine gewisse "Dickfelligkeit", während das Volk "dünnhäutig" sein durfte - das kommt einem heute bekannt vor.

Der Pariser Mediävist Jean-Marie Moeglin zeigte, wie im sogenannten Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich - Mitte des 14. bis Mitte des 15. Jahrhunderts - äußere Einmischung und inneres Zerwürfnis ineinandergriffen. So wurde plastisch, wie mühsam überhaupt erst der Streit der Regionen und Adelsparteien überwunden werden musste, um eine legitime Herrschaft der Könige in Frankreich herzustellen, während im allgemeinen Bewusstsein, von der Französischen Revolution her, eine quasi ewige monarchische Vorgeschichte unterstellt wird.

Verzwickte Lage: Historisches Wissen schwindet, aber die historische Neugier wächst

Auf demselben Spätmittelalter-Panel sprach Klara Hübner, die an der Universität im tschechischen Brno/Brünn forscht, über die vorreformatorischen Hussiten in Böhmen - diese frommen Rebellen gegen klerikale Missstände wurden in ihrem Vortrag zu frühen nationalistischen Populisten, die sich gegen die deutschen Eliten, gegen die deutsche Sprache und gegen die katholische Orthodoxie als wahre böhmische Nation, "natio Bohemica", von "reinem Blut" darstellten. Gerade solche speziellen Diskurse sind auf Historikerkonferenzen oft besonders interessant. Anschließend gab es eine höfliche, aber kontroverse Diskussion darüber, ob man so etwas schon Rassismus oder Proto-Rassismus nennen dürfe. Eine andere Spaltung, die in Ost und West, brachte der Welt das regelrechte Tauziehen der Bischöfe um Christus und die Märtyrer in der Spätantike, welches der Tübinger Historiker Fabian Schulz untersuchte: War Rom oder Konstantinopel näher am Heil? Diese folgenreiche Kirchenspaltung zeigte sich an der Behauptung des Kirchenvaters Hieronymus: "Jetzt geht im Abendland die Sonne der Gerechtigkeit auf." Die Zweifel daran sind zuletzt gewachsen.

Und so ging es durch viele weitere Gegensätze: Protestanten gegen Katholiken, Vegetarismus gegen Fleischkonsum, Waffenbesitzer gegen Waffenlose. Die akademischen Historiker befinden sich dabei selbst in einer verzwickten Lage: Historisches Wissen schwindet, aber die historische Neugier wächst. Sie müssen sich an veränderte Kommunikationsformen anpassen, Youtube-fähig werden, scheinbare historische Selbstverständlichkeiten gegen Demokratiefeinde neu erklären und zugleich weiterhin exzellente Monografien schreiben.

Das Grundgefühl ist: Es driftet einiges auseinander. Aber man muss auch nicht überall ein fundamentales Zerwürfnis herbeianalysieren. Um noch einmal die Geruchsforschung aufzurufen: Es ist nicht alles Spaltung, was einem stinkt.

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Quelle:
SZ vom 29.09.2018
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