Die These, wonach der Allmächtige unsere Welt vor allem als göttliche Tragödie ersonnen habe, lässt sich auch an diesem Wochenende überprüfen. Es ist Ferienzeit.
Ferienzeit ist Autozeit, Flugzeugzeit, Bahnzeit. Die hohe Zeit also einer absurd mobilen Gesellschaft, deren Irrsinn sich nun besonders deutlich zu erkennen gibt. Ihre Merkmale sind: Aggressionen, Beleidigungen und Straftaten. Und: Verletzte und Tote.
Auf der A7 könnte sich also, wie am letzten Wochenende, ein 40 Kilometer langer Stau bei Allertal Richtung Hannover bilden. Und vielleicht einer auf der Gegenseite: 30 Kilometer lang. Auf der A8 dagegen wird vielleicht wieder ein Mann an einer Raststätte mit dem Brotmesser bedroht werden, während in Augsburg noch immer nach einem Fahrradfahrer gefahndet wird, der vom Rad aus mit einem Krummschwert eine 47-jährige Frau köpfen wollte.
Mit den Ferien haben solche Exzesse nicht notwendigerweise etwas zu tun. Aber in Ferienzeiten schwellen die Archive der allgemeinen Mobilmachung besonders stark an.
Wer nachliest, was sich im Zuge der enormen Verkehrsdichte auf unseren Straßen (egal, ob Stau oder halbwegs freie Fahrt) und in unseren Bahnhöfen, in den Terminals oder Bushaltehäuschen zuträgt, der begreift jedenfalls, dass die mobile Gesellschaft, deren Bewegungsdichte mittlerweile ohne jedes historische Beispiel ist, außer Kontrolle gerät. Die Welt, sie rast.
Wobei diese Raserei, etlichen Studien zufolge, nur zwei Richtungen kennt. Erstens: Die Mobilität, die Berufsmobilität wie die Freizeitmobilität, der Güter- wie der Personentransport, all dies nimmt unaufhörlich zu. Noch keine Zeit zuvor sah derart "reisefertig" aus (Benn) - wie unsere. Noch 1950 betrug zum Beispiel die jährliche Fahrleistung eines deutschen Autofahrers rund 1000 Kilometer. Mittlerweile sind es 12.000 Kilometer.
Zweitens: Die damit einhergehenden Aggressionen nehmen - unabhängig vom jeweiligen Mobil-System - in noch dramatischeren Umfängen zu. Die Menschen sind dem Stress der Mobilität, die sie mit allen Mitteln verteidigen ("freie Fahrt für freie Bürger"), nicht gewachsen. Untersuchungen zufolge erleiden zum Beispiel Berufspendler ähnliche Stress-Situationen wie die Piloten von Kampfjets.
Auch deshalb sprechen Mobilitätsforscher mittlerweile von einem "Klimawandel". Manche nennen es: "Krieg der Straße". Der Krieg der Kulturen ist ganz offensichtlich auch einer der Mobilitäten: Autofahrer gegen Fußgänger, Fußgänger gegen Radfahrer, Bahn gegen Flugzeug, Privatverkehr gegen öffentlichen Verkehr, Schiene gegen Straße...
Die menschliche Population scheint ausschließlich aus Verkehrsteilnehmern zu bestehen. Ein Mensch, der zum Beispiel in Deutschland 70 Jahre alt wird, verbringt fast vier Jahre seines Lebens ausschließlich im Status des Unterwegsseins.
Nimmt man die notwendigen Aufenthaltszeiten in transitorischen Zwischenräumen dazu, also das Leben in Erwartung der U-Bahn oder beim Anstellen zum Check-in, so ergibt sich mindestens ein ganzes Jahrzehnt, welches allein der Mobilität geopfert wird.
Nur wird dies nicht als Wahnsinn beschrieben - sondern als Dynamik, Flexibilität oder sogar Freiheit gepriesen. In der jüngsten Aral-Studie "Mobilität und Sicherheit" liest sich das so: "Das Seelische braucht und sucht Bewegung."
Dieser immense Bewegungsdrang, der den globalistisch umtriebigen Manager, den Globetrotter, den fürs Weekend nach Paris eingeladenen Easy-Jet-Bucher oder auch den erst neuerdings bekannten "Flugpendler" an die einst kühnen Wallfahrer, Kaufleute oder Gesandten des Mittelalters anbindet, mag natürlich sein.
Er ist sogar evolutorisch bedeutsam. Nur der Mensch, der Distanzen überwinden kann, ist in der Lage, Nahrung und Schutz oder auch nur bessere Lebensbedingungen zu finden. Daher dürfte das Bedürfnis nach nahezu unbegrenzter Mobilität fast so etwas wie ein gesellschaftlicher Reflex sein - der sich, dank billigster, vielfach subventionierter Mobilitätspreise Bahn bricht.
Dabei kann die anstehende Mobilisierung der Schwellenländer (und wer sollte es ihnen verwehren?) in kürzester Zeit zum Kollaps des Planeten führen. Wobei es - und darauf kommt es an - nicht nur ökonomische Gründe für diesen ökologischen Wahnsinn gibt: In Industrieländern wie Deutschland ist nur ein Fünftel der Maßeinheit "Wege" etwa der Arbeit oder Ausbildung geschuldet. Wir haben es mit einem luxuriösen Reflex zu tun.
Ein Indiz dafür ist das Paradoxon, wonach die Mobilität zu einer Zeit ausufert, da sie - dank Kommunikations-Technologie und Dienstleistungs-Gesellschaft, dank Pizzaservice, Telearbeitsplatz und Amazon.de - weniger notwendig als jemals zuvor erscheint. Blaise Pascal wäre folglich noch nie so leicht zu beherzigen gewesen.
Er fand, im 17. Jahrhundert, dass "alles Unglück der Menschen einem entstammt, nämlich dass sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können. Kein Mensch, der genug zum Leben hat, würde sich, wenn er es nur verstünde, zufrieden zu Haus zu bleiben, aufmachen, um die Meere zu befahren oder eine Festung zu belagern".
Unsere Zeit aber ist die, in der das Futuristische Manifest des Dichters Filippo Tommaso Marinetti aus dem Jahr 1909 eine Form der Möglichkeit für alle geworden ist. Marinetti sah mit Ungeduld eine Zeit heraufdämmern, da sich die toten Hunde auf den Straßen unter heiß gelaufenen Autoreifen "wie Hemdkrägen unter dem Bügeleisen" biegen würden.
Ernsthaft wurde erst kürzlich am Massachusetts Institute of Technology ein Transrapid ersonnen, der New York und London in einer 100 Meter tief im Meer versenkten Vakuumröhre verbinden soll. Mit einem Tempo von 7400 km/h wären dort die Passagiere unterwegs, London wäre dann ein Vorort von New York. 100 bis 200 Milliarden Dollar würde das kosten. Raum, Zeit, Kosten und Sinn waren noch nie so relativ. Was wir erleben, ist nicht mehr die Not, sondern den Luxus des Unbehaustseins.
Wobei diese nur gefühlte Notwendigkeit zu Aufbruch und Reise, diese abstruse gesamtgesellschaftliche Nervosität, jedes anders geartete Dasein diskreditiert. Zwar ist die geografische Mobilität in vielen Fällen nichts anderes als der Versuch, das Defizit geistiger Mobilität auszugleichen, aber dessen ungeachtet wird alles, was nicht nach Flexibilität und Dynamik aussieht, gnadenlos dominiert oder gar ausgesondert.
Wer unbeweglich ist, und sei es auch aus freien Stücken, passt nicht in unsere Zeit. Mobilität ist zum Ausweis und Fetisch eines diffus als qualitätsvoll begriffenen Lebens geworden. Den Mobilen und Nomaden gehört die Welt - obwohl sie kaum je wissen, warum sie wann wohin rasen. Die Sehnsucht nach dem "anderen Ort" war einmal eine geistig gemeinte Utopie - jetzt ist es eine Banalität der Geografie.
Selbst die Immobilien sehnen sich bereits danach, auf die Reise zu gehen: Unsere Computertische haben Rollen, darunter stehen "Rollcontainer". Und der jüngste Spot von T-Mobile (!) spielt an einer Haustür. Ein Junge öffnet.
Der Vertreter fragt, wo der Papa sei. Der Junge: "zu Hause". Ob man ihn sprechen könne? - "Nein." -"Wieso?" - "Er ist nicht da." Dann folgt die Auflösung: "Der ist auch unterwegs zu Hause." Und auch Vodafone wirbt mit dem Satz: "Zuhause ist da, wo Ihr Telefon ist."
Womöglich wird uns erst die allerletzte Ruhestätte wieder zu einer anderen Form von Zuhause werden: das Grab oder die Urne. Wäre da nicht die aktuelle Geschäftsidee, "Trauerdiamanten aus der Asche Verstorbener" zu machen, damit man diese am Ring immer mit sich führen könne. Im Spiegel war dazu kürzlich dieser Leserbrief abgedruckt: "Ich halte das mobile Grab für die langwährende Entsprechung zu unserer Mobilität zu Lebzeiten."
(SZ am Wochenende vom 6./7.8.2005)